Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
Vom Netzwerk:
musste er Rasputin zurückrufen, seinen Körper auf Erden zurücklassen und die Seele des Geistlichen wieder auf den ihr vorbestimmten Weg bringen.
    Ein Klopfen an der Tür ließ ihn aufspringen. Er erwartete, eine offen stehende Todestür zu sehen, im Rahmen der finster dreinblickende Captain. Stattdessen trat ein Bediensteter ein, der ein gefaltetes Schreiben auf einem Silbertablett hereinbrachte.
    »Vergebt mir«, sagte Alexandra und nahm den Umschlag. Sie las die Nachricht und beschied ihren Gast: »Bitte entschuldigt mich kurz. Und schaut bei Alexis vorbei, ja?«
    Calder war zutiefst erleichtert, entlassen zu sein. Er trat auf den Gang hinaus und suchte nach einem Ort, an dem er allein sein und Rasputin sowie eine Tür zurück auf die Passage heraufbeschwören konnte. Der Korridor war leer, ebenso wie der nächste Raum, ein kleines Musikzimmer voller Stühle, Notenständer und einem Klavier. Calder schloss die Tür hinter sich und nahm seinen Schlüssel heraus. Er hielt ihn fest in der rechten Hand.
    »Grigori Rasputin«, flüsterte er.
    Alles blieb still und dunkel, bis auf ein seltsames Summen der Klaviersaiten, als ob eine Brise durch sie hindurchwehte.
    »Rasputin«, wiederholte er, diesmal lauter. »Wenn du mich hörst, so antworte.«
    Ein Bediensteter öffnete die Tür und räusperte sich mit abgewandtem Gesicht. »Ihr findet den Zarewitsch in der Bibliothek.«
    Als Calder dort ankam, spielten vier der Kinder gerade Blindekuh, ein Spiel, dem er vor Jahren auf einem Todesschauplatz beigewohnt hatte. Für einen Moment verschwand die Bibliothek vor seinen Augen, als hätte er einen Schal vor dem Gesicht, und kurz darauf erblickte er orangefarbenes Licht und roch den Duft von gebratenem Fisch. Als er die Arme ausstreckte, griff er ins Leere, hörte jedoch noch das Gelächter der Kinder.
    Seine Blindheit ängstigte ihn, doch er versuchte, sich zu beruhigen.
    Du erinnerst dich an dein Leben auf Erden,
sagte er sich,
da du wieder in einem menschlichen Körper steckst. Das sind drei Jahrhunderte alte Erinnerungen aus deiner Kindheit.
Auf einmal erinnerte er sich auch daran, dass er arm war, auf der Straße gelebt und für ein paar Halfpennies und etwas Brot gesungen hatte. Er war kein vornehmer Musiker gewesen, der vor Königen und dem Adel aufgetreten war. Er meinte sich zu erinnern, wie er als junger Mann unter einem Theaterbogen gesessen hatte, mit einer Papierlaterne über ihm, um vor gefesselten Zuhörern zu spielen. Allerdings war es kein Theaterbogen, sondern die Unterseite einer Brücke, die Laterne war ein Dreiviertelmond, und statt der guten Gesellschaft lagen Pfähle und Pfeiler, Steine und Unrat um ihn herum am Ufer.
    Er meinte, eine verzierte Trommel zu seinem Gesang geschlagen zu haben, doch erkannte nun, dass es sich nur um eine umgedrehte Holzkiste gehandelt hatte. Er dachte, zu seinen Füßen hätte ein teurer Pelzmantel gelegen, ein Zeichen der Dankbarkeit seines wohlhabenden Patrons, doch in Wahrheit war es nur sein Hund gewesen, seit zwölf Jahren sein treuer Begleiter. Es war keine Schande, arm zu sein, weshalb Calder keinen Verlust bei der Erkenntnis verspürte, wie sein Leben verlaufen war, doch er hatte das Gefühl, dass er sich an mehr erinnern sollte.
    Wieder waren seine Augen verbunden, und als er den Schal nach oben schob, stand ein kleiner Junge mit schwarzem Haar und überraschend blauen Augen grinsend vor ihm.
    »Was würdest du ohne mich tun?«, fragte ihn das Kind.
    Mit schockierender Klarheit nahm Calder den Geruch nach einer gebratenen Kartoffel wahr – er fühlte auch ihr Gewicht, als ob man sie ihm in die kalten Finger gelegt hätte, und ihre Hitze durch die verschlissenen Handschuhe –, und er erinnerte sich, wie er sich an diesen Dingen erfreut hatte.
    Dann war das Bild verschwunden.
    * * *
    Als er wieder sehen konnte, betrat Calder leise die Bibliothek. Das älteste der Romanow-Mädchen saß über seinen Büchern und versuchte, das Gekicher zu ignorieren, während die anderen drei mit ihrem Bruder durch den Raum rannten und an Stühle und Tische stießen. Die Jüngste hatte sich auf der Suche nach ihren Geschwistern die Vorhangschlaufe um die Augen gebunden und die Arme tastend vor sich ausstreckt.
    Calder war erleichtert, denn unter ihrem Blick fühlte er sich am unbehaglichsten.
    »Eins«, sagte das Elfenmädchen, worauf ihre zwei Schwestern und der Junge »Zwei. Drei. Vier« riefen. Sie stürzte sich auf den Klang der Stimmen, tastete durch die Luft und hätte beinahe

Weitere Kostenlose Bücher