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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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noch vor seinen ausgestreckten Händen befinde. Da kehrte sein Sehvermögen mit Übelkeit erregender Heftigkeit zurück – ein Licht erstrahlte hinter der hölzernen Mauer, als er sich dem Haus näherte. Doch es war kein Kerzen- oder Lampenlicht. Es schien hinter der Welt der Lebenden.

14.
    C alder hatte schon oft mehr als einen Begleiter am selben Ort gesehen, doch nur einmal in all den Jahren auf der Passage hatte er es erlebt, wie die Nacht sich von vollständiger Finsternis zu hellem Tag wandelte, als sich viele Türen im selben Moment öffneten. Das war, kurz bevor er Alexandra zum zweiten Mal aufgespürt hatte. Er war der erste Begleiter gewesen, der zu einem gesunkenen Schiff beordert worden war, und während er auf einer schwimmenden Kellertür wartete, der Todestür eines Mannes, beobachtete er, wie sich Hunderte von Todestüren im selben Moment öffneten, als ob ein großes Loch in dem blendenden Schein des Himmels entstanden wäre.
    Als er auf das Haus der Romanows zurannte, sah er dasselbe Licht, jenes Licht von mehr als einer sich öffnenden Todestür. Durch die Ritzen zwischen den Wandbrettern und die Fensterrahmen – selbst durch die winzigen Risse in den übermalten Fenstern – drangen helle Strahlen und glitten vom oberen Geschoss zum unteren, als er durch das Tor und über den Hof rannte. Noch bevor er beim Haus angelangt war, griffen vier Hände nach ihm und warfen ihn neben einem Lastwagen zu Boden, der vorher noch nicht dagestanden hatte.
    »Sie wollen sie töten!« Calder versuchte sich loszureißen. »Sie werden den Zaren töten!« Er konnte sich aufsetzen, doch die Wachen, darunter derjenige, der in der Gasse auf ihn geschossen hatte, hielten ihn immer noch fest.
    »Gott hat mich geschickt, um dem Einhalt zu gebieten«, erklärte Calder. »Deshalb vermochten eure Kugeln mir nichts anzuhaben.« Wenn er ihnen zeigen könnte, dass er unsterblich war, dann würden sie ihm zuhören müssen. Er wollte nach dem Gürtel des Mannes greifen und seine Waffe nehmen, doch er wurde wieder zu Boden gestoßen. Der Soldat zog seine Pistole und stellte Calder einen Fuß in den Nacken.
    Ein knackendes Geräusch ertönte, wie Zweige, die unter den Rädern eines Karrens brachen, und ein Hund fing in der Ferne an zu bellen. Calder fühlte, wie sich die Welt zu schnell um ihn drehte und gleichzeitig still zu stehen schien, weshalb das Geräusch anhielt. Die Wachleute lauschten angespannt.
    Sobald sich der Lärm gelegt hatte, kam eine Gestalt vom Haus herangestolpert. Es war der junge Soldat, der nun seinen Revolver fallen ließ, auf die Knie sank und sich heftig erbrach. Ein Anhänger baumelte um seinen Hals, seine Haare bewegten sich, als er sich für einen Moment vor und zurück wiegte, aufstand und dann auf die Straße hinausging.
    Der Soldat, der Calder festhielt, rief ihm nach: »Ilja, komm zurück!« Als er jedoch keine Antwort erhielt, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Seelenhüter zu, plazierte die Pistole an dessen Schläfe und drückte ab.
    Der Einschuss erschütterte Calder bis ins Mark. Erst wurde alles weiß um ihn herum und dann schwarz, als hätte sich eine dunkle Wolke über ihn gelegt. Er hörte Stimmen. Flüstern. Verärgertes Knurren. Irgendetwas brannte. Ein Gesicht erschien vor ihm. Es war der Junge mit den blauen Augen und den dunklen Locken, der eine Seilrolle über der Schulter trug.
    »Sieh mal an«, sagte das Kind. »Wo warst du?«
    Calder hörte ein Klingeln in den Ohren. Er konnte durch die Welt um den Jungen hindurchsehen, Schichten aus Erde und Bäume, die gar nicht da waren, klare Wolken und ein kristallener Mond. Dann war wieder alles dunkel.
    Der Seelenhüter erwachte mit Blättern und Zweigen bedeckt in einem Graben. Es war immer noch Nacht. Er setzte sich auf und entdeckte eine Dose Kerosin in einigen Metern Entfernung. Anscheinend hatte etwas Dringenderes seine Totengräber von ihrer Aufgabe abgehalten. Er erinnerte sich an die Pistolenschüsse und rannte über das dunkle Feld zu dem Haus der Romanows. Das Tor war unbewacht, der Lastwagen vom Hof verschwunden. Calder rief sich den jungen Mann in Erinnerung, der aus dem Haus gelaufen war – der Grund für seine heftige Übelkeit war nicht die Ermordung eines einzelnen erwachsenen Mannes gewesen, sondern das kaltblütige Abschlachten von Frauen und Kindern.
    Als Calder ins Haus stürzte, hörte er Rufe und Befehle, außerdem schwere Stiefelschritte. Er hastete durch jeden Raum im oberen Stockwerk. Die Romanows waren

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