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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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weitergegeben?«
    Er schien von einem Moment zum nächsten die Seiten gewechselt zu haben – zuerst gab er sich noch als Calders Freund, um sich gleich darauf zu seinen heißgeliebten verlorenen Seelen zu bekennen.
    »Der Himmel wird alles sein, was du willst«, erklärte Calder. »Du wirst keine anderen Portale benötigen.«
    »Das Universum bietet viel mehr Möglichkeiten, als immer nur nach Gott zu schmachten.« Rasputins Stimme wurde härter, Schatten wirbelten um ihn herum. »Gehorsam ist Knechtschaft – wenn Gott geliebt werden will, dann soll er sich liebenswerter geben.« Er griff sich an den Kopf, als hätte er Schmerzen, und setzte sich auf die unterste Stufe. »Das meine ich nicht. Manchmal bin ich ganz klar – ich weiß, wie alles zusammenhängt.« Er hatte die Augen weit aufgerissen, wirkte verwirrt. »Dann wieder bin ich ganz durcheinander und schäme mich.« Er sprang auf, um Calder erneut zu berühren, wischte sich mit der klauenartigen Hand übers Gesicht. »Das macht mich wütend.«
    »Das bewirkt der Ort, den du bewohnst«, erklärte Calder.
    »Ich habe wochenlang versucht, meiner Familie zu erscheinen«, sagte Rasputin. »Doch sie haben mich nie gehört oder gesehen.« Er klopfte sich die Kleidung ab, als ob sie schmutzig wäre, worauf Schattenwolken wie Staub von ihm aufstiegen. »Ich war auch bei Matuschka, während sie betete, aber sie hat mich auch nie gehört. Doch das spielt keine Rolle mehr«, sagte Rasputin. »Wenn ich daran denke, wie leidenschaftlich ich die Zarin und den Jungen beschützt habe, wie sehr ich die ganze Familie geliebt habe, erscheint mir das alles vollkommen absurd.« Er überlegte einen Moment, fügte dann hinzu: »Ich ziehe diese neue Freiheit, die Ungebundenheit von Verpflichtungen vor. Viel natürlicher. Aber«, sein Lächeln verschwand abrupt, »manchmal kehrt die Liebe wie eine Krankheit zu mir zurück.« Seine Augen waren schwer und düster. »Bist du dir sicher, dass dies nicht die Hölle ist?« Bevor Calder zu einer Antwort ansetzen konnte, lachte er schon wieder, und sein Gesicht strahlte vor Freude. »Was für Dummheiten ich da von mir gebe!«
    Rasputin löste sich von der Welt der Lebenden, während Calder genau das Gegenteil empfand. Je länger er sich unter den Erdgebundenen bewegte, desto bewusster war ihm der menschliche Instinkt, sich an das Leben zu klammern und den Tod zu fürchten. Er war dabei, die distanzierte und ehrfürchtige Art zu verlieren, mit der ein Begleiter liebte. Er wusste, wenn die Familie des Zaren in Gefahr wäre, würde er alles tun, um sie zu retten. Doch wovor? Vor dem Tod? Als ob der Tod der Feind wäre.
    »Du siehst nicht gut aus«, sagte Rasputin.
    »Sind noch andere Begleiter gerade anwesend?«, fragte Calder statt einer Antwort.
    Der Russe war nicht fester als eine Luftspiegelung, dennoch schien er einen Schatten an die geschlossene Tür zu werfen, der sich schließlich aufteilte.
    »Engel?«, flüsterte der eine Schatten.
    Der andere zischte: »Sieh mich an!«
    Der Geruch nach verbranntem Haar kehrte zurück, stärker als zuvor.
    »Ich rieche Blut.« Rasputin warf Calder einen finsteren Blick zu. »Hast du nicht die Pistolen gesehen, die sie gehortet haben? Warum stehst du noch da? Rette sie!«
    Calder stürzte sofort die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal. Er rannte durch die Gasse, um eine Ecke und über die leere Ebene, die zu dem Gefängnisgebäude führte, bis es um ihn herum plötzlich dunkel wurde. Als sein Sehvermögen zurückkehrte, sah er einen gezeichneten Pfad vor sich, als ob er an einer niedrigen Mauer entlangrannte, über eine belebte Straße und unter einem Friedhofstor hindurch. Er hörte Männer verärgert rufen, seinen eigenen keuchenden Atem, das Stampfen seiner Füße, während er immer weiter lief und sprang. Dann sah er, dass er einem kleinen Jungen mit dunklen Locken folgte, der schneller rannte als Calder, obwohl er hinkte. Mit blitzenden blauen Augen blickte er über die Schulter und rief: »Fang mich!«
    Calders Körper, immer noch in Jekaterinburg, stolperte in dem unebenen Gras. Blindlings rannte er weiter, hatte jedoch keine Zeit, die Erinnerung abzuschütteln. Er sah den lahmen Jungen über einen Grabstein springen und sich in ein Loch in der Wand der verfallenen Kirche kauern. Zwar folgte er ihm, doch er fühlte nur Gras und Lehm unter seinen Händen, als er strauchelte. Er rappelte sich wieder auf und spurtete weiter auf das Gefängnis zu, von dem er glaubte, dass es sich immer

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