Seelenhüter
gegeneinanderstießen.
Was für ein unnatürlicher Anblick, denn die Leiber, die hier in diesem schlammigen Loch verrotten sollten, waren einst voller Leben und königlicher Anmut gewesen. Der Zar von Russland, seinerzeit einer der mächtigsten Männer der Welt, schwamm am Boden eines offenen Grabes, nackt, von Kugeln zerfetzt, das Gesicht von Schlägen entstellt. Alexandra musste auch irgendwo sein, ihrer Seele beraubt, ihr irdischer Körper kalt und steif. Ebenso wie die Mädchen, weggeworfen wie Tiere, wegen ihrer Häute erlegt.
Calder zwang sich, noch einmal in die Tiefen des Schachtes zu blicken. Er sah zwei weiße Beine, nackt und still, gegen die Wand stoßen, als sich das Wasser bewegte. Und dort, auf der anderen Seite des Schachtes, dicht über der Wasseroberfläche, sah er ein, nein zwei Gesichter wie bleiche Monde. Alexis und Ana hoben die Köpfe, das Haar klebte ihnen an den Wangen, und starrten mit ausdrucksloser Miene hinauf in die Welt der Lebenden.
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Teil IV
Die fehlenden Knochen
15.
A lexis musste den Schlüssel seiner Schwester gegeben haben, denn beide waren unversehrt, doch weder tot noch lebendig, nicht mehr einfach nur ein Junge und ein Mädchen. Als Ana am Totenbett ihres Bruders stand, hatte sie Calder genauso wahrgenommen wie Alexis. Beiden war das Sehen gewährt worden. Trotzdem waren sie noch keine Begleiter, denn man hatte sie von ihrem Lehrmeister Calder getrennt. Soweit er wusste, gab es keine Bezeichnung für solche Wesen, die sich zwischen den Welten bewegten.
Er wollte den beiden beruhigende Worte zurufen, doch er brachte keinen Ton heraus. Auch die Kinder starrten entweder ihn stumm an, als er zu ihnen hinunterstieg, oder etwas hinter ihm am Himmel, das mehr Hoffnung versprach als er.
Vorsichtig griff Calder nach den feuchten Balken, die einst die Erde von dem tiefen Loch zurückgehalten hatten. Das Erdreich war rutschig und bröckelte ab, als er nach unten kletterte. Dann brach ein Trittbrett, und er stürzte ins Wasser. Er schämte sich, weil er aufschrie, als er mit einem der toten Mädchen zusammenstieß, deren Unterwäsche zerfetzt war und wie Seegras im Wasser schwamm. Aber zum Glück war das Wasser nur brusthoch. Calder versuchte, das Gleichgewicht zu halten, nicht sicher, worauf er stand, und bewegte sich mit ausgestreckten Armen auf die Kinder zu.
»Kommt«, flüsterte er.
Beide reichten ihm die Hände, griffen nach seinem Arm und ließen sich von ihm zu der Schachtwand mit den wenigsten gebrochenen Balken leiten. Zuerst hob Calder Ana in die Höhe und hielt sie an der Taille, wo die Überreste ihres Korsetts herabhingen, bis sie sicheren Halt an dem Holz gefunden hatte. Ihr Haar, das früher wie ein goldener Wasserfall ihren Rücken bedeckt hatte, war auf Schulterlänge abgeschnitten. Ihr zerrissener Petticoat hob sich bleich aus der Dunkelheit wie das Segel eines gesunkenen Schiffs, das Wasser strömte flutartig daran herab.
Als sie sicher an der Oberfläche angelangt war, half Calder ihrem Bruder auf die Behelfsleiter. Alexis trug immer noch die Metall- und Lederbandage am linken Bein, und als sich die tropfenden Hosenbeine des Jungen aus dem Wasser erhoben, überkam Calder eine furchtbare Ahnung.
Begleiter wurden normalerweise nicht von den Körpern der Seelen abgestoßen, die sie eskortierten, doch als etwas in Calders Rücken trieb, überlief es ihn kalt. Er fürchtete, dass es sich um Alexandras Leiche handeln könnte. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, war er gefesselt gewesen von ihrem Äußeren, doch noch viel mehr hatte ihn die Schönheit ihres Geistes angezogen, die empfindsame Seele, die ihr Kind so verzweifelt liebte. Nun war beides verschwunden. Ihr Geist war in den Himmel aufgestiegen, und ihr Körper, dessen Anblick er so sehr fürchtete, war auf eine nutzlose Hülle reduziert, die sich mit Brackwasser füllte und wieder mit der Erde verschmolz, aus der Gott alles Leben geformt hatte.
Zitternd stand Calder im Dunkeln und wandte den Blick gen Himmel. Ana kniete über dem Schachteinstieg und streckte eine Hand nach ihm aus. Alexis stand neben seiner Schwester, schien sie jedoch nicht wahrzunehmen, sondern starrte schnell und flach atmend in die Bäume.
»Komm da raus«, flüsterte Ana. Sie öffnete und schloss auffordernd die Hand.
Calder vermied es nachzusehen, was ihn am Arm streifte, packte die Balken an der Schachtwand und begann zu klettern. Anas Hand nahm er nicht, aus Angst, dass sie stürzte, doch sie griff nach seinem
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