Seelenhüter
verschwunden, zusammen mit ihren Besitztümern. Das Bett des Zaren war abgezogen, die Feldbetten der Mädchen standen aufgestapelt in einer Ecke. Am verstörendsten war der Anblick des Rollstuhls, der umgedreht an einer Esszimmerwand lehnte.
Calder schüttelte zwei Männer ab, die ihn aufhalten wollten, und stürzte die Treppen hinunter ins Erdgeschoss. Auch hier durchsuchte er alle Räume, doch die Kaiserfamilie war verschwunden. Schließlich hielt er in einem winzigen Zimmer inne, das bis auf zwei Stühle leer war. Beide waren zerbrochen, einer lag auf der Seite auf dem Boden. Die Wand hinter ihnen war bis auf das Holz hinter den Tapeten durchlöchert. Außerdem waren Blutspritzer zu sehen.
Als sie Calder schließlich doch aus dem Haus zogen, erhaschte er einen kurzen Blick auf einen Haufen nachlässig zusammengeschobener Gegenstände – eine Bibel, einen Handspiegel, eine Bürste. Er versuchte sich einzureden, dass es kein Blut gewesen war vorhin, doch er roch es immer noch. Sie brachten ihn in den Hof und ließen ihn niederknien. Der Soldat, der ihm in den Kopf geschossen hatte, war nicht unter den Wachen, dafür trat der Kommandant hinzu.
»Das ist derselbe schwachsinnige Kerl wie vorhin«, erklärte er seinen Männern ungeduldig. Lächelnd baute er sich vor Calder auf. »Den Gefangenen geht es gut«, begann er laut. »Man hat sie an einen sichereren Ort gebracht, sag das deinen Freunden. Der Zar ist weit weg.«
Dann trugen sie Calder nach draußen und schickten ihn weg. Ziellos begann er zu laufen und versuchte verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen. Der Zar, seine Frau und seine Töchter waren tot, ihre Seelen waren bereits auf der Passage. Doch wo war ihr Sohn? Er setzte sich auf die Straße und lehnte sich an die Wand irgendeines Geschäfts. Hatten sie Alexis zusammen mit den anderen Leichen an einem geheimen Ort vergraben? Eine Stimme ertönte von der anderen Seite der Wand, als ob sie Calders Gedanken gehört hätte.
»Sie hätten die Leichen verbrennen sollen, aber sie haben es nicht getan.«
Calder bemerkte, dass er an einer Schenke lehnte. Die Stimme drang durch das offene Fenster über seinem Kopf. Er setzte sich aufrechter hin und lauschte.
»Man hat sie einfach ins Wasser geworfen.« Der Mann versuchte zu flüstern, doch er hatte offensichtlich getrunken und sprach mit lauter Stimme.
Bedrücktes Gemurmel erhob sich, dann fragte jemand: »Wer hat dir das erzählt? Ich glaube es nicht.«
Calder glaubte es. Er betrat die Taverne, ein kleiner Raum mit Holzbänken und einer Bar mit braunen Flaschen. Drei Männer und zwei Frauen saßen dicht beisammen.
»Sinowi, einer der Wachmänner«, sagte die erste Stimme. »Er hat sie mit seinen eigenen Händen berührt.« Der Sprecher war ein kleiner Mann mit einer großen, zerfurchten Stirn.
»Sind alle tot, auch die Kinder?«, fragte eine der Frauen entsetzt.
»Jeder einzelne, von Kugeln zerfetzt und dann in den Minenschacht geworfen.«
Erschrockenes Luftschnappen und gemurmelte Gebete waren die Antwort auf diese erschütternde Neuigkeit.
Calder musste unbedingt vor den neugierigen Einwohnern bei dem nassen Grab sein oder bevor die Mörder das Gerede hörten und die Leichen wegschafften. Leise ging er zu dem Barmann und entlohnte ihn für eine geflüsterte Wegbeschreibung zum Minenschacht.
Kurz darauf befand er sich auf einem kleinen Weg, der in den Wald führte. Dort war es feucht, überall undurchdringliches Dickicht, Brombeerranken und mit Moos überwucherte, halb im Schlamm versunkene Steine. Der Wind strich hohl durch die Kiefern wie durch eine große Harfe. Trotz des Mondscheins stolperte Calder oft und kam in der Dunkelheit sogar zweimal vom Weg ab.
Endlich entdeckte er die Wegmarke, die der Barmann ihm genannt hatte: einen mannshoch aufragenden Baumstumpf, hinter dem er ein von Menschenhand angelegtes Rechteck erblickte. Die Vorstellung, dass sie die Kaiserfamilie einfach in dieses Loch geworfen hatten, entsetzte ihn so sehr, dass seine Beine zu zittern begannen, als er sich dem Schacht näherte.
»Alexis?«, rief er unsicher. »Bist du hier?«
Er hörte ein leises Plätschern, wie eine Taube in einem Vogelbad, und rannte zu dem offenen Schacht. Wasser schwappte in den dunklen und undurchdringlichen Tiefen. Die einige Meter unter ihm liegende Wasseroberfläche glänzte wie ein Spiegel, doch das Bild der Sterne und Äste wurde von den bleichen, fast schneeweißen Körpern gestört, die sanft im Wasser trieben und
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