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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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Ärmel und zog daran, als er sich auf den Boden neben ihr hievte.
    Sie zupfte an seiner Kleidung und versuchte, ihn dazu zu bewegen, sich aufzusetzen.
    »Hast du nichts mitgebracht?« Sie sah sich um. »Wir brauchen Seile.«
    »Nein«, flüsterte er. »Wir müssen sie zurücklassen.«
    Ihre Augen blitzten aufgebracht auf, und für einen Moment fürchtete er, sie würde ihn schlagen, doch sie ließ nur seinen Arm los.
    »Sie werden zurückkommen, um die Leichen zu bergen. Niemand darf wissen, dass wir hier waren«, sagte er. »Wir müssen uns beeilen.«
    Er wusste, bald würden Männer in Lastwagen kommen, mit schwingenden Laternen und Schaufeln, und die Leichen aus dem Grab bergen, um sie unter einer kaum befahrenen Brücke zu verscharren oder am Ufer eines fischlosen Flusses oder an einem geheimen, steinübersäten Abhang.
    »Mein Vater lebt!« Alexis ließ sich am Rand der Öffnung auf die Knie fallen, und Calder und Ana sahen mit ihm nach unten. Der rechte Arm des Zaren ragte aus dem Wasser, die Hand halb geöffnet, nachdem der Körper gegen die Schachtwand getrieben war.
    Ana griff nach Calders Arm.
    Als sich das Wasser kräuselte, schien die Hand des Zaren sich nach innen zu neigen und ihnen zuzuwinken. Sein Gesicht lag im Schatten, doch der weiße Arm und die Hand, so entspannt wie an einem Sommertag an der Küste, tanzten auf dem Wasser, ehe sie langsam wieder untertauchten.
    »Ich komme!« Alexis war drauf und dran, in den Schacht zurückzuklettern, doch Calder packte den sich wehrenden Jungen fest an der Taille. »Er lebt!«
    Ana stand auf, eine Hand vor den Mund geschlagen, den Blick starr auf den Körper unter ihr gerichtet.
    »Er atmet noch.« Alexis trat wie wild um sich. »Schau doch!«
    Alle blickten nach unten, und als sich das Wasser erneut kräuselte, drehte sich der Körper des Zaren langsam, und der Kopf tauchte im Mondlicht auf. Da war kein Gesicht mehr.
    Ana gab ein leises Geräusch von sich und wandte sich ab. Alexis erschlaffte.
    Der Schrei, den der Junge kurz darauf ausstieß, barg pure Verzweiflung und Trauer, Entsetzen und Horror – Gefühle, die ein Kind niemals so erleben sollte. Ana nahm ihn aus Calders Armen, drückte ihn an die Brust, wiegte ihn und murmelte tröstende Worte in sein Haar. Der Junge ließ sich von ihr auffangen und gab sich ganz seiner Trauer hin, bis er schlaff und beinahe bewusstlos gegen sie sackte, leblos wie eine Puppe.
    Calder wollte die Geschwister nicht stören, doch sie mussten sich zumindest verstecken, bevor die Soldaten kamen, um die Leichen abzuholen. Vorsichtig näherte er sich dem Mädchen, umarmte sie sanft von hinten und nahm ihre Ellbogen in die Hände, hob sie leicht in die Höhe und drängte sie vorwärts. Sie tat einen Schritt und zog den Jungen mit sich. So bewegten sich die drei eng nebeneinander von dem Schacht weg in den dichten Wald hinein.
    Bei einigen toten Bäumen säuberte Calder den Boden von Dornen und Gestrüpp, damit sie sich ausruhen konnten. Die Baumstämme standen aneinandergelehnt und bildeten eine Höhle, gestützt von Efeu und heruntergefallenen Ästen. Die Kinder setzten sich eng aneinandergeklammert; Alexis atmete schnell und scharf, Ana seufzte lang und schmerzvoll. Calder kauerte sich neben die Baumhöhle und beobachtete die beiden in der Dämmerung, während er auf Stimmen lauschte.
    Ana schloss die Augen, während sie ihren Bruder hin und her wiegte, der durch tränenverschleierte Augen in die Dunkelheit blinzelte.
    Offensichtlich waren sie beide besondere Begleiter. Calder wusste, dass Lehrlinge auch zu zweit auftreten konnten. Es gab ein berühmtes Schwesternpaar, dem man den Schlüssel gemeinsam überreicht hatte, siamesische Zwillinge, die Seite an Seite ihre Aufgabe erfüllten, auch wenn sie nur im Geist an die Passage gebunden waren. Ebenso würden sicher auch Ana und Alexis lernen, gemeinsam zu wirken.
    Die Tränen des Jungen versiegten, und er blickte Calder aus rotgeweinten Augen an. Der Hass darin war selbst in der Dunkelheit nicht zu übersehen.
    »Warum nicht die anderen?«, flüsterte Alexis.
    Ana ließ die Arme sinken und lehnte sich zurück, um ihrem Bruder ins Gesicht blicken zu können.
    »Warum bist du nicht früher gekommen?« Er wartete nicht auf Calders Antwort. »Du hättest den Schlüssel uns allen geben können.«
    »Sch.« Ana verschloss ihm den Mund mit den Händen und drückte seinen Kopf an ihre Brust. »Hier ist es nicht sicher«, flüsterte sie.
    »Warum?« Alexis entwand sich ihrem Griff.

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