Seelenhüter
sterben sehen kann?«
»Nein.« Calder zuckte zusammen, als die Männerstimmen wieder auf der anderen Seite der Wand ertönten. »Ich würde Euch mitnehmen. Ihr würdet nicht …«
Sie unterbrach ihn. »Wie könnt Ihr nur glauben, ich würde meinen Ehemann zurücklassen?«, flüsterte sie. »Mein Fleisch ist von seinem Fleisch. Ich werde ihn über den Tod hinaus lieben.« Ihre Wangen röteten sich. »Und meine Kinder … wie könnte ich sie nur zurücklassen?«
Der Seelenhüter sank auf ein Knie nieder, in der Hoffnung, man möge ihm vergeben. »Ich bin der Grund für all das hier. Ich bin schuld. Ihr habt richtig gehandelt.«
Ihr habt lediglich,
erinnerte er sich an ihre erste Begegnung,
Euer Kind geliebt.
»Ich habe einen schweren Fehler begangen, indem ich zu Euch kam«, bekannte er. »Ich habe meiner Welt eine Wunde zugefügt, die ich nur heilen kann, indem ich Euch mit mir nehme.«
Alexandra blickte auf den Schlüssel in seiner ausgestreckten Hand. »Könnt Ihr mich dazu zwingen?«
Calders Magen krampfte sich zusammen. Seine Hände und sein Gesicht fühlten sich taub an. »Nein«, antwortete er.
Sie hob die rechte Hand, als ob sie den Schlüssel berühren wollte, zögerte jedoch. »Versprecht Ihr mir etwas?«
Calder zuckte erneut bei dem Geräusch von schweren Stiefeln im Flur zusammen. »Was?«
»Versprecht es, bevor ich es Euch sage«, flüsterte sie.
Er hatte keine Wahl. »Ich verspreche es.«
»Gebt Alexis die Macht über den Tod.« Sie zog die Hand zu sich. »Denn ich weise sie zurück.«
13.
C alder stand hinter der Schlafzimmertür, als Alexandra ins Esszimmer ging, um mit ihrer Familie zu sprechen. Da alle Türen offen standen, konnte er hören, wie der Zar seinen Kindern laut vorlas. Der sanfte Bariton erinnerte ihn an den Captain.
Alexandra wartete, bis ihr Mann fertig war, dann schlug sie ihm und den Töchtern vor, einen Nachmittagsspaziergang zu unternehmen. Sie wolle so lange hierbleiben und mit Alexis Karten spielen. Calder konnte die Stimmen der Mädchen hören, ebenso Anas heiseres, kindliches Lachen.
Die Zarin war niemals zur besonderen Begleiterin ausersehen worden, sonst hätte sie sich verpflichtet gefühlt, den Schlüssel anzunehmen. Doch Calder erinnerte sich, dass Alexis ihn gesehen und auch seine Stimme gehört hatte. Der Junge sollte also sein Lehrling werden.
Leise trat Alexandra in den Türbogen und bedeutete Calder hereinzukommen. In dem düsteren und leeren Raum saß der Junge in einem Weidenrollstuhl, das linke Bein bandagiert und geschient. Er starrte Calder an, allerdings nicht mit Freudentränen in den Augen wie seine Mutter, sondern mit düsterer Achtsamkeit.
»Er hat so viel gelitten«, flüsterte Alexandra, als sie den Seelenhüter zu dem Stuhl führte. »Das Leben ist für ihn härter als für uns.« Sie wandte sich an den Jungen. »Unser Freund ist gekommen, um uns zu helfen.«
»Er ist nicht unser Freund«, sagte Alexis.
»Sch!« Sie blickte sich um, als erwarte sie, jeden Moment unterbrochen zu werden. »Die Wachen kommen ohne anzuklopfen ins Zimmer. Beeilt Euch.«
Calder nahm die Kette mit dem Schlüssel vom Hals und zeigte sie dem Jungen, der sie misstrauisch musterte.
»Mit diesem Amulett kannst du nicht verletzt werden«, flüsterte sie. »Du wirst nie wieder krank sein.«
»Ich will es nicht«, antwortete der Junge.
»Sieh nur, was es bei Vater Grigori bewirkt hat.«
»Das ist mir egal.«
Alexandra versteifte sich, und auch wenn ihre Stimme sich nicht über ein Flüstern erhob, verschärfte sich ihr Ton. »Alexis, du tust, was ich dir sage. Wir haben keine Zeit.«
Seufzend streckte der Junge die Hand aus, und Calder senkte die Kette über seinen Kopf, wie Liam es damals bei ihm getan hatte. »Ich reiche dir den Schlüssel weiter«, sagte er und drückte ihn dem Jungen in die Hand. »Mein Auserwählter.«
Calder erinnerte sich nicht, sich anders gefühlt zu haben, aber natürlich war er damals schon tot gewesen. Alexis erschien im ersten Moment unbeeindruckt, doch dann wirkte er betroffen. Er legte eine Hand auf seine Schiene und blickte zwischen seiner Mutter und Calder hin und her.
»Was ist los?«, fragte Alexandra.
Calder hörte Stiefeltritte in der Nähe. Wenn sie jetzt unterbrochen würden, wie sollte er dann Rasputin und eine Tür heraufbeschwören?
Der Junge sprang aus seinem Rollstuhl und balancierte mit einem überraschten Grinsen auf dem linken Bein. Als er begann, die Bandage abzurollen, sagte seine Mutter: »Vater Grigori
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