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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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verstand sofort. Wenn sich der Junge für den Tod entschied und sie sah, wenn er seinen Körper zurückließ, dann würde er in den Himmel kommen. Wenn er stattdessen Calder erblickte, würde er in das Land der verlorenen Seelen reisen.
    Der Seelenhüter trat einen Schritt zurück, doch es war zu spät. Der kleine Junge stieg aus seinem Körper, und anstatt die Hand der Begleiterin zu nehmen, starrte er auf Calder und schreckte zurück.
    Calder stolperte nach hinten, die Hände erhoben, und flüsterte auf Japanisch: »Keine Angst. Geh zur Tür hinüber.«
    Der Junge schrie auf, als ob ein Drache die Worte gebrüllt hätte. Er hastete in die unsichtbare Öffnung des Landes der verlorenen Seelen, die Begleiterin hinterher. Calder wusste, er hatte eine neue verlorene Seele geschaffen, daran bestand kein Zweifel. Die Umrisse der Tür waren noch für einige Sekunden zu sehen.
    Die Soldaten schubsten Calder, zogen an ihm, ihre Worte ein unverständliches Dröhnen. Er hechtete auf den Griff der verschwindenden Tür zu, fiel durch die Erscheinung und brachte den Türklopfer zum Schwingen. Das Geräusch vibrierte in seinen Knochen. Er wusste nicht, ob der Captain es gehört hatte. Einer der Soldaten schlug Calder seinen Revolver gegen die Schläfe. Der Schmerz ließ seinen Blick verschwimmen, doch als die Tür verblasste, sah er noch das reine Licht in der winzigen Öffnung des Schlüssellochs.
    Ana und Alexis waren sofort an seiner Seite und redeten hastig auf die Soldaten ein.
    »Er ist mein Vater«, erklärte Alexis. »Er ist nicht ganz richtig im Kopf. Lasst ihn in Ruhe!«
    »Komm, Papa.« Ana half Calder auf. »Er hat Anfälle.«
    Der Geisterwind hatte sich gelegt. Offensichtlich hielten die Soldaten ihn wirklich für verrückt und ließen sie gehen. Ana und Alexis führten ihn zurück zum Hafenbüro.
    »Werden Sie jetzt einen Arzt holen?«, fragte Alexis.
    »Jemand wird sich um den Jungen kümmern«, sagte Ana.
    »Was, wenn es kein Krankenhaus gibt?«
    Sie wussten nicht, dass der kleine Japaner bereits gestorben war, und Calder wollte es ihnen auch nicht sagen. Er war immer noch entsetzt darüber, dass der Junge vor ihm ins Land der verlorenen Seelen geflüchtet war. Das weiße Licht, das über die ganze Passage von einem Ort hinter der Zelle, den ganzen Weg von der Küste des Captains bis zur Tür gereist war, ließ ihm das Herz schwer werden.
    »Was hast du da gemacht?«, fragte Alexis.
    »Ich habe eine der Meinen gesehen«, antwortete Calder. »Hast du sie nicht bemerkt? Oder die Tür?«
    Keiner antwortete. Er hätte gedacht, dass sie auch jetzt noch Begleiter und Todestüren wahrnehmen konnten. Doch Alexis wirkte verblüfft, und Ana schüttelte den Kopf. Der Lichtschein aus dem Himmel verblasste zu einem Traum.
    »Er ist also tot?«, fragte Ana.
    Alexis lief rot an. »Sie wollten nicht auf mich hören!«
    Ein Lastwagen rumpelte an ihnen vorbei, voller zerschlitzter Ölgemälde in prunkvollen Rahmen und vergoldeter Notenständer. Im Hafenbüro saß ein altes Ehepaar eng nebeneinander und las einen Brief. Ana und Alexis standen vor Calder und redeten, doch seine Umgebung begann in weite Ferne zu rücken, ein Zeichen, dass er gleich wieder einen Blick in die Vergangenheit werfen würde.
    Er spürte seine Hand auf dem Tisch im Hafenbüro, hörte sich selbst erklären, dass seine und die Papiere der Kinder bei einem Feuer verlorengegangen waren. Er verfolgte, wie der Hafenangestellte mit seiner runzligen Hand geschickt das Geld, das Calder ihm diskret zugeschoben hatte, in seiner Tasche verschwinden ließ. Er sah das Schiff über ihnen aufragen, als sie das Büro verließen, mit vier großen Schornsteinen, die sich in den Himmel reckten. Er sah die Planken unter seinen Füßen, als sie an Bord gingen, aber dann hatte er wieder den japanischen Jungen vor Augen, wie er seine Ohren vor den Schlägen zu schützen versucht hatte. Doch es konnte nicht derselbe von vorhin sein, denn der war klein gewesen, mit glattem Haar und langen, feinen Fingern, und hatte eine blaue Tunika und Strohsandalen getragen. Dieser Junge hatte dunkle Locken, und seine Finger waren kurz und kräftig. Er kniete weinend in einer Pfütze, während zwei wütende Männer auf ihn einschlugen. Calder versuchte sich einzureden, dass es sich dabei um einen Todesschauplatz handelte, doch er wusste es besser.
    Er kehrte lange genug in die Gegenwart zurück, um zu sehen, wie Ana ihr Brillengestell über Bord warf. Er hörte das Schiffshorn, das ein so tiefes

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