Seelenhüter
ihn mit Sehnsucht und Unzufriedenheit.
* * *
Dreizehn Tage dauerte die Reise nach Wladiwostok. Sie fuhren durch die mongolische Steppe, an den dunklen Gewässern des Baikalsees vorbei und durchquerten die Wüsten Nordchinas. Ihr Zug verspätete sich unzählige Male, nicht nur an den kleinen gelben Bahnstationen unterwegs, sondern auch im Nirgendwo. Soldaten hielten ihn an, um die Abteile und die Passagiere zu durchsuchen, manchmal nur, um einzusteigen, manchmal ohne ersichtlichen Grund. Quietschend und ächzend kam der Zug jedes Mal zum Stehen, und es konnte Minuten oder gar Stunden dauern, bevor sie die Fahrt fortsetzten.
Ana fürchtete, dass sie aufgrund der Verzögerungen Ilja verpassten. Jedes Mal, wenn der Zug in einen Bahnhof einfuhr, suchte sie verzweifelt die Gesichter der Männer auf dem Bahnsteig nach einem vertrauten Antlitz ab. Selbst in der Nacht blickte sie nach draußen, und das Licht des Mondes glänzte auf ihrem Haar.
Eines Nachts wachte Calder über die schlafenden Kinder, als er eine Hand am Fenster sah. Er fuhr herum und erblickte Rasputin, der breit grinsend außen am Waggon hing.
»Du hast den Schlüssel dem Jungen und seiner Schwester gegeben«, sagte er. »Das hat sie verändert. Es muss ein sehr mächtiger Zauber sein. Wo ist er jetzt?«
Calder gefiel Rasputins Ausdruck überhaupt nicht. »In Sicherheit. Wir wollen ihn holen. Und wenn wir ihn haben, solltest du in der Nähe sein.«
»Hat ihn jemand gestohlen? Ihr seid auf einer sehr langen Reise.« Man merkte Calder das Misstrauen wohl an, denn Rasputin lachte und sagte: »Egal. Ich habe eine weitere Nachricht für dich.« Er beugte sich zu ihm herüber und sprach so leise, als ob seine Worte vertraulich wären. »Eure Freunde sagen, dass du aus den Kindern keine Begleiter machen kannst, weil du sie hinters Licht geführt hast.« Er zuckte mit den Schultern.
»Sind sie nicht die Lehrlinge, die ich in den Himmel begleiten soll?«, fragte Calder.
»Nein«, antwortete Rasputin. »Du sollst einer verlorenen Seele helfen.«
»Dir?«
Rasputin schnaubte verächtlich. »Ich bin keine verlorene Seele!« Er seufzte. »Die Seele kanntest du, als du noch am Leben warst.« Dann zwinkerte er Calder zu, ließ den Waggon los und flog davon wie ein Blatt im Wind.
»Bleib hier!«, flehte Calder, doch vergebens.
Er wäre nur zu gern auf seinen Posten als niederer Begleiter zurückgekehrt, wenn es die von ihm verursachten Wunden geheilt hätte. Natürlich wollte er nur das Beste für Ana und Alexis, wollte sie sicher in den Armen ihrer Familie im Himmel wissen. Doch er verspürte eine gewisse Trauer darüber, dass sie nicht als seine Lehrlinge neben ihm im Jenseits sitzen würden.
Auch beunruhigte es ihn, dass er nicht wusste, welcher verlorenen Seele er helfen oder wie er sie finden sollte.
* * *
Die lange Reise zehrte an Alexis. Eines Nachmittags saß er auf seinem Sitz und trat gegen die Wand. »Ich mag diesen Zug nicht mehr«, stöhnte er. »Warum hast du auch Ilja nehmen müssen? Wir können ihm nicht vertrauen.«
»Natürlich können wir das«, sagte Ana.
»Was, wenn er nicht glaubt, dass der Schlüssel Macht hat?«, beschwerte sich ihr Bruder. »Was, wenn er ihn weggeworfen hat?«
Ana schien bestürzt, doch dann sagte sie leidenschaftlich: »Du verstehst das nicht. Wenn er mir eine Erinnerung an ihn gäbe, und sei es nur ein Knopf, dann würde ich ihn niemals abnehmen.« Sie klang absolut sicher. »Er trägt den Schlüssel an seinem Herzen, ich weiß es.«
Alexis seufzte nur.
»Du hast keine Ahnung, was wir füreinander empfinden«, fügte sie hinzu.
Ein Knall ertönte, als ein Geröllbrocken den Zug an der Seite traf.
Ana schnappte erschrocken nach Luft und sprang vom Fenster zurück, während Alexis kampfbereit nach vorne stürzte. Der Zug verlangsamte die Fahrt, hielt jedoch nicht an, als sie durch einen kleinen Bahnhof fuhren. Zwei Bataillone Soldaten von je zwanzig Mann starrten ihnen frustriert nach.
»Bourgeoiser Zug«, brüllte einer.
Einige jubelten ihm zu, dann traf ein weiterer Stein den Zug. Calder schloss das Fenster und zog die Jalousie herunter, doch dann kam ein walnussgroßer Stein auf ihn zugeflogen, traf das Fenster auf Höhe seines Gesichts und hinterließ ein Gitternetz in der gesprungenen Scheibe. Als der Zug aus dem kleinen Bahnhof gefahren war, konnte Calder immer noch die Protestrufe und die Steine hören, die wie Knallfrösche gegen die Waggons prallten.
18.
A ls sie sich endlich der russischen
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