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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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nur von einem Ort zum anderen springt?«
    »Für mich«, antwortete Calder, »ist das Reisen auf diese Art nicht, wie wenn man ein Buch auf Seite hundert aufschlägt, sondern wie wenn man sämtliche neunundneunzig Seiten vorher lesen muss, um ans Ziel zu gelangen.«
    Ana verschränkte die Arme und zog eine Augenbraue hoch. Sie sah damit fast so elfenhaft aus wie damals als kleines Mädchen. »Du bist aber nicht einer von denen, die die letzte Seite eines Buches zuerst lesen, weil sie wissen wollen, wie es endet, oder?«
    Calder verschränkte ebenfalls die Arme. »Wenn du einen Schokoladenkuchen backen möchtest, liest du dann im Kochbuch jedes Rezept über die Zubereitung von Fleisch, bevor du zum Kapitel über Desserts weiterblätterst?«
    Ana lächelte zum ersten Mal, seit sie aus dem Grubenschacht geklettert war, und es brach ihm das Herz.
    * * *
    Sie verließen das Schiff in Nagasaki. Das Land war flach und dicht mit hohen Gräsern bewachsen, die Berge im Hintergrund waren in salzigen Nebel gehüllt. Die nackten Masten der unzähligen Fischerboote sahen aus wie Küstenschilf. Die Passagiere wurden eine Rampe hinunter und einen eingezäunten Pfad entlang in ein Zimmer mit Blechdach und Zeltwänden getrieben, die im Wind flatterten. Ihr Gepäck wurde geöffnet und durchsucht. Sowohl Japaner als auch Russen liefen umher, doch es war nicht klar, wer hier das Kommando hatte.
    Calder hielt einige gefaltete Geldscheine versteckt in der Hand, auch wenn ihn diese Bestechungen nervös machten. Sie durften auf keinen Fall wegen ihrer fehlenden Papiere festgehalten werden.
    »Was ist los?«, fragte Alexis seine Schwester.
    Ana hatte eine Hand in die Seite gepresst und betastete eine Naht ihres Kleides. »Nichts.« Doch sie wirkte angespannt.
    Dann wurden sie von einem russischen Beamten, der keine Uniform trug, an den Anfang der Schlange gerufen. Calder wiederholte die Geschichte mit den verbrannten Papieren und bot ihm Geld für neue Dokumente an, doch der Mann kritzelte nur einige Zahlen auf einen Zettel, schob ihn Calder zu und winkte sie weiter.
    Als sie eine Rampe hinter Bergen von Kisten und Schachteln hinaufgingen, schlugen ihnen die Geräusche und Gerüche von Nagasaki entgegen: die Schläge von Messingglocken, die Pfiffe der Hafenarbeiter, über deren Köpfen Bündel an Seilen verladen wurden, die Stimmen von Betrunkenen, die grölend lachten und derbe Lieder sangen. In der warmen Luft hing schwer der Geruch nach Fisch und Zigarrenrauch, nassen Grasmatten und brennendem Sesamöl.
    Die Menge setzte sich aus den verschiedensten Menschen und Sprachen zusammen: Engländer mit Monokeln, japanische Frauen mit auf den Rücken gebundenen Babys, Asiaten mit spitzen Bärten, Chinesen mit langen, geflochtenen Zöpfen, Missionarsfrauen in züchtigen schwarzen Kleidern. Soldaten aus aller Herren Länder lungerten an den Marktständen herum. Ein amerikanischer Journalist hockte in einer Gruppe japanischer Jungen und zeigte ihnen seine Kamera.
    Ana hielt sich immer noch die Seite.
    »Geht es dir nicht gut?«, fragte Calder.
    »Versteck mich«, flüsterte sie, packte ihn am Ärmel und zog ihn zu dem Stamm eines dicken Banyanbaumes. Sie riss auch Alexis mit sich mit, der mit Calder die Sicht auf Ana abschirmte, die hektisch an ihrem Kleid herumnestelte.
    »Alles in Ordnung.«
    Sie zeigte ihnen ihre Handfläche, in der drei kleine Smaragde lagen.
    »Sie haben also nicht alle gefunden«, bemerkte Alexis.
    »Wir haben Edelsteine in unsere Kleidung eingenäht, für den Fall, dass man uns rettet und wir im Exil leben müssen«, erklärte Ana.
    Deshalb haben sie ihr das Korsett zerfetzt,
dachte Calder.
Die Wachen haben nach den Schätzen gesucht.
    Sie gab die Edelsteine ihrem Bruder und wischte sich die Hände an ihrem Rock ab, als ob die Steine unrein wären. Alexis hielt einen in die Sonne und blinzelte hindurch, doch Calder war der Meinung, an diesem Ort besser keinen Wohlstand zu zeigen, und hielt Alexis zurück. Zu seiner Überraschung fühlte sich der Junge nicht angegriffen.
    »Bewahre sie für uns auf.« Er ließ die Smaragde in Calders Hand fallen. »Später brauchen wir vielleicht Geld.«
    Der Seelenhüter verstaute die winzigen Edelsteine in seiner Hosentasche. Dabei fiel ihm auf, dass Ana immer noch sehr unwohl wirkte.
    Er fürchtete, dass die Erinnerungen sie heimsuchten, ebenso wie ihn. »Es ist vorbei«, flüsterte er. »Es geht ihnen gut jetzt.«
    Ana schlug die Hände vors Gesicht. Calder suchte erst nach einer

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