Seelenhüter
warst.«
»Hat Ilja dir das erzählt?« Alexis grinste verschlagen.
»Du hast sicher vom Petersburger Blutsonntag gehört.«
Das Gesicht des Jungen verdunkelte sich. »Das ist nie passiert.«
»Woher willst du das wissen? Du warst noch ein Baby.«
»Es ist eine Lüge.«
Ana schlug mit der Hand gegen das Fenster. »Schau dir doch ihre Gesichter an.«
Alexis weigerte sich.
»Statt ihnen zu helfen, hat man sie wie Verbrecher erschossen«, sagte Ana bitter.
»Genauso wie uns.« Alexis musterte seine Schwester, die schweigend aus dem Fenster starrte, als der Zug beschleunigte. Der Junge schien zu überlegen, ob er aus Zuneigung zu Ana schweigen solle, doch dann gewann der Ärger. »Du weißt nicht, wovon du redest«, fuhr er sie an. »Vater war ein großer Landesführer.«
Sie seufzte. »Er wollte es sein.«
»Halt den Mund!« Alexis stampfte mit dem Fuß auf.
Calder schreckte auf, bereit, die beiden zu trennen.
»Er war der beste Vater, den man sich wünschen kann«, sagte Ana. »Er hat versucht, ein guter Führer zu sein.«
»Was weißt du schon davon? Du hast dich doch in der Bibliothek vergraben und alberne Spiele gespielt.« Er warf sich auf den Sitz, stand aber sofort wieder auf. »Säuglinge auf den Knien zu wiegen macht einen nicht zu einem großen Mann.«
»Ich habe nicht gesagt, dass er kein großer Mann war«, erwiderte Ana. »Aber er hätte sehen müssen, was passierte …«
»Das ist Verrat!« Alexis funkelte sie mit geballten Fäusten an. »Ich befehle dir, ruhig zu sein.«
»Du hast mir nichts zu befehlen.« Ana schüttelte sich, fing sich wieder. »Ich liebe Vater genauso wie du.«
Calder hätte erwartet, dass Alexis weiterstreiten würde, doch er schien das Interesse verloren zu haben.
»Und ich vermisse ihn genauso wie du«, fügte Ana hinzu.
Alexis stand am Fenster, die Stirn gegen den Rahmen gelehnt. »Lass uns so schnell wie möglich zu ihm gehen«, sagte sie leise.
Bei diesen Worten sank der Junge in sich zusammen und ließ sich von ihr auf den Sitz neben sich ziehen.
»Wenn wir die anderen im Himmel finden«, flüsterte Ana, »werde ich zuerst Vater und dann Mutter umarmen.« Sie schloss die Hand um die ihres Bruders, als er sich gegen sie lehnte. Seite an Seite sahen sie aus dem Fenster, vor dem nun Hügel und Felder vorbeizogen. »Ich werde deshalb Mutter nicht zuerst umarmen können, weil sie sich auf dich stürzen und dich so fest umarmen wird, dass du dreißig Zentimeter größer wirst.«
Calder beobachtete die Geschwister, und ihm wurde schmerzhaft bewusst, wie einsam sein Leben als Begleiter gewesen war. Ebenso wie sein menschliches Dasein. Als er die Bindung der beiden zueinander sah, wirkte diese Bürde des Herzens vertraut. Das hatte auf der Passage immer gefehlt. Das Band zwischen Ana und Alexis schien Calder für die Menschen viel wertvoller als Essen oder Wärme, Sicherheit oder Wohlstand. Wertvoller als Freiheit und Ehre. Doch wie die Ehre war sein Wert erst nach seinem Verlust zu spüren.
Sein Blick verdunkelte sich, als ob der Zug durch einen Tunnel führe, und Calder fühlte eine Hand an seiner Schulter, die ihn zum Lachen brachte. Er hörte das Glucksen eines Jungen, so nah, dass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Er sah die Unterseite einer steinernen Brücke sowie Bug und Mast eines Fischerbootes über sich. Wasser schwappte rechts neben ihm. Er drehte sich nach seinem Freund um, doch der Junge rannte verschwommen hinter ihm, und er konnte nur seinen Rücken sehen. Er war etwa zehn Jahre alt, klein, mit dunklen Locken und einem lahmen Bein, das ihn nicht weiter zu behindern schien.
»Und dann werde ich Olga, Tatjana und Maria küssen«, sagte Ana träumerisch. »Alle werden sie gleichzeitig reden und uns erzählen, wie es im Himmel ist und was wir uns zuerst ansehen müssen.«
Als Calders Augenlicht zurückkehrte, beobachtete er, wie die Welt am Fenster vorbeizog, und entdeckte zu seiner Erleichterung keine schwarzen Schatten. Er hoffte, dass die verlorenen Seelen das Interesse an ihm verloren hatten. Ana und Alexis saßen aneinandergekauert da, als ob nichts geschehen wäre. Sie starrten durch die Fensterscheibe, als wäre sie ein magischer Spiegel, der in eine andere Dimension führt. Ein Leben, vor dem man sie behütet hatte und von dem sie nur ungenaue Vorstellungen hatten. Eine Welt, die sie nie verstanden hatte. Doch anstatt Mitleid zu empfinden, verspürte Calder Neid. Ihre Nähe bewegte ihn, schmerzte ihn, erfüllte
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