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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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Geräusch von sich gab, dass seine Zähne vibrierten. Als Nächstes sah er Blut im Rinnstein einer dunklen Straße. Der Junge weinte immer noch. Calder war sich bewusst, dass Ana mit ihm sprach, doch er konnte sie nicht sehen, bis er den Kopf nach unten beugte. Er folgte ihr und Alexis in ihre winzige Kabine.
    Der Raum war eng, mit nur einem verschmierten Bullauge. Die Betten standen so dicht beieinander, dass man dazwischen kaum stehen konnte.
    »Haben sie dich am Kopf getroffen?«, fragte Ana. »Bist du verletzt?«
    »Ich dachte, du wärst unverwundbar«, bemerkte Alexis und ließ sich auf eines der Betten fallen.
    »Jetzt geht es mir gut.« Calder wollte den Kindern nichts von der Kraft seiner Erinnerungen erzählen.
    Alexis behauptete, nicht müde zu sein, und schlief doch sofort ein. Ana sagte, sie wolle sich nur kurz neben ihn setzen, und war binnen Minuten eingenickt. Calder setzte sich kerzengerade auf das andere Bett und presste den Rücken gegen die Wand, weil er unbedingt wach bleiben wollte.
    Calder hatte sich immer eines Tricks bedient, um sich an den Namen eines Begleiters zu erinnern. Er war im Kopf einfach das Alphabet durchgegangen, und wenn er bei dem richtigen Buchstaben angelangt war, fiel ihm der betreffende Name ein. Nun versuchte er sich an den Namen des blauäugigen Jungen zu erinnern, indem er die Namen seiner Kameraden aufsagte: Arielle, Auben, Bails, Ben, Byrd, Cait, Chase, Conner, Cullers, Duncan, Dymar. Dann sagte er nur noch einen Namen pro Buchstabe auf: Etta, Fannie, Gwyr, Hannah, Ian, John, Kilmoira, sein Lehrmeister Liam, Michaela, Noyce, Oma, Peter. Schließlich erinnerte er sich: Pincher.
    Pincher mit der pfeilförmigen Narbe am Kinn, mit den unterschiedlich langen Beinen, der auf den Fingern pfeifen konnte. Der Ire, dessen Familie ein Segelboot besaß, hatte damit geprahlt, dass seine Verwandten Waren in Särgen schmuggelten und dass er selbst einmal die »Leiche« gespielt hatte. Er lag dabei wie ein toter Pharao auf den versteckten Gläsern mit seltenen Gewürzen. Pincher, der mitten auf der Straße zu Tode geprügelt worden war und den Calder nicht gerettet hatte. Offensichtlich war Calder dort gewesen. Er hatte das Blut gesehen. Er hätte eingreifen müssen.
    Stattdessen war er durch ein Loch in einer Mauer gekrochen und davongerannt.

19.
    T ag und Nacht zogen an dem Bullauge vorbei. Calder wollte die Kinder nicht wecken, sie aber auch nicht allein lassen. Er wachte an ihrer Kabinentür oder saß auf dem Bett, während sie schliefen. Anas Hand lag halb geöffnet an ihrem braunen Kleid wie eine nachtblühende Lilie. Das enge Bett der beiden ähnelte einem offenen Sarg, und für einen Moment wurde es zu einem im Bauch eines kleinen Fischerbootes.
    Pincher, die dunklen Locken mit einem Stück Garn im Nacken zusammengebunden, hob gerade einen Sargdeckel an, damit Calder die Messingkerzenleuchter sehen konnte, die in Mehlsäcke eingewickelt darin lagen. Er zog ein kleines Bündel hervor, das nach verwesendem Fleisch stank.
    »Siehst du?«, fragte er und wickelte eine mumifizierte Maus aus. »Wenn jemand wissen will, was im Frachtraum ist, zeigen wir ihnen die Särge, und wenn sie nur eine Nase voll davon nehmen, werden sie nie nach den Leichen fragen.«
    Am nächsten Tag war Pincher tot.
    * * *
    Die Pfeife, die ihre Ankunft in Japan ankündigte, riss Calder zurück in die Gegenwart, doch sie weckte nicht die Kinder. Er rüttelte Ana an der Schulter.
    »Was ist passiert?«, fragte sie überrascht.
    »Du hast geschlafen.«
    Sie zwinkerte ihn neugierig an. »Habe ich das?«
    »Ihr beide, eine ganze Weile«, fügte er hinzu.
    »Ich hatte seltsame Träume«, sagte Alexis, während er sich aufsetzte.
    »Ich auch«, ergänzte Ana.
    »Erzähl sie mir«, forderte ihr Bruder.
    »Ich kann mich nicht daran erinnern.«
    Calder vermutete, dass sie schwindelte.
    »Hast du die ganze Zeit auf uns aufgepasst?«, fragte Ana. »War es langweilig?«
    »Ich bin es nicht gewohnt, so zu reisen«, gab Calder zu. »Land und Wasser zu überqueren, um von einem Ort zum anderen zu gelangen.«
    »Wie reist man als Engel?«, fragte Alexis.
    »Ein Begleiter öffnet eine Tür und tritt hindurch.«
    »Bist du das?«, fragte Ana. »Ein Begleiter?«
    »Wie ein Dienstbote«, sagte Alexis lächelnd. »Begleite mich und trage mir die Tasche.«
    »Er begleitet Seelen«, wies Ana ihren Bruder zurecht und beobachtete Calder mit neuerwachtem Interesse. Dann fragte sie: »Verpasst man nicht viele schöne Gegenden, wenn man

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