Seelenhüter
Sitzgelegenheit, doch das brennende Gefühl, dass sie beobachtet wurden, veranlasste ihn, die Menge abzusuchen. Eine alte Japanerin, die in einem Segeltuchstuhl neben einem Marktzelt döste, musterte Calder verstohlen. Sie tat, als ob sie schliefe, nur ihr linkes Auge war fest auf Calder gerichtet. Tröstend legte er den Arm um Anas Schulter, wandte seine Aufmerksamkeit jedoch nicht von der alten Frau ab.
Er hielt den Atem an, als sich der linke Mundwinkel der Alten zu einem Grinsen verzog. Die rechte Seite ihres Gesichts blieb schlaff.
»Wo ist Alexis?«, fragte Ana.
Calder war sich sicher, dass der Junge nicht weiter als eine Armlänge entfernt sein konnte, doch er war verschwunden, und obwohl Calder größer war als die meisten, entdeckte er kein weißes Hemd und keinen dunkelblonden Schopf. Er folgte Ana über den Marktplatz, bis ihn eine leise Stimme aufhielt, die ihn auf Russisch ansprach.
»Hier drüben, Eskorte.« Die alte Frau stand grinsend neben ihm, ein vertrautes Funkeln in den Augen. Calders Magen verkrampfte sich. »Du bist nicht verrückt«, sagte sie. »Ich bin es, Grigori.«
»Du kannst nicht …« Calder war so überrascht, dass er kaum ein Wort herausbrachte. »Wie hast du …«
»Ich habe vorher um Erlaubnis gefragt«, erklärte Rasputin aus dem Inneren der alten Frau.
Die Vorstellung, wie Rasputin eine unschuldige alte Frau schändete, bereitete Calder Übelkeit. »Das ist kein Spiel. Merkst du nicht, wie respektlos du dich verhältst?«
Rasputin lachte nur, ein furchteinflößender Laut aus der Kehle der winzigen Frau. »Ich dachte, du magst meine Nachrichten.« Er zuckte mit zusammengesunkenen Schultern. »Ich muss dich nicht besuchen. Ich habe genug zu tun.«
»Was denn?«, fragte Calder alarmiert.
»Meine Kameraden lernen jede Menge neue Dinge«, sagte Rasputin. »Zum Beispiel sich hör- und sichtbar zu machen. Sie können Sachen bewegen, haben aber noch einen langen Weg vor sich.«
Calder versteifte sich.
»Alle auf einmal«, fuhr Rasputin fort. »Es ist bemerkenswert. Einer lernt einen Trick, und kurz darauf können ihn die anderen auch.«
»Hast du Nachrichten für mich?«
»Habe ich vergessen«, antwortete Rasputin. »Aber jetzt erzähl mir, was ihr vorhabt.« Er beäugte Calder misstrauisch. »Wo bringst du die Kinder hin?« Spöttisch fügte er hinzu: »Von denen du eins schon verloren hast.«
Calder war zumindest froh zu hören, dass die verlorenen Seelen nicht allwissend waren. Sie konnten überall hingehen und alles sehen und hören, doch sie wussten nichts, was sie nicht selbst beobachtet hatten. Vor einiger Zeit noch hätte er Rasputin vielleicht anvertraut, wohin ihre Reise sie führte, wen sie suchten – und vor allem warum –, doch jetzt war er vorsichtig. Rasputin weilte schon zu lange im Land der verlorenen Seelen.
»Warum tust du das? Du könntest genauso gut wie bisher zu mir kommen und mit mir sprechen«, sagte Calder.
Die schmalen Schultern zuckten wieder, die geliehenen Augenbrauen hoben sich. »Es macht Spaß. Außerdem versuchen wir dir manchmal zu erscheinen, und du ignorierst uns.«
Da hörte Calder die Stimme des Jungen und rannte los, wobei er Kaufleute und Matrosen zur Seite stieß. Er entdeckte Alexis zwischen zwei wütenden Männern, auf die er aufgebracht einredete, auf Russisch auf den einen, in gebrochenem Englisch auf den anderen.
20.
C alder erkannte, dass der eine Mann der Amerikaner mit der Kamera war, der andere ein Russe in einer zerschlissenen Uniform, an der bis auf einen alle Knöpfe fehlten.
Er wollte Alexis wegziehen, doch dessen Bedürfnis nach Diplomatie hielt ihn davon ab.
Alexis redete mit dem Journalisten. »Er sagt, Sie würden die russischen Kinder zu …« Er fuhr mit der Hand durch die Luft, auf der Suche nach dem richtigen englischen Wort. »… einem Witz machen.«
»Ist er verrückt?«, fragte der Amerikaner und ging einen Schritt auf den Russen zu, doch Alexis legte ihm eine Hand auf die Brust und wandte sich mit einer sehr freien Übersetzung an den Russen.
»Er sagt, er macht das zur Unterhaltung der Kleinen.«
Der Russe umfasste seine Waffe. »Arroganter Bastard.«
Alexis sagte zu dem Amerikaner: »Er will wissen, ob es Ihnen etwas ausmachen würde, die Kamera wegzupacken.«
»Sag ihm, dass er sich da raushalten soll, oder ich prügel ihn windelweich«, knurrte der Mann, verstaute jedoch seine Kamera in ihrer Ledertasche.
Ana kam hinzu und drängte sich an Calder vorbei, um ihren Bruder zwischen
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