Seelenhüter
den beiden Männern wegzuziehen. »Was tust du denn da?«
»Ich wollte die Kamera sehen.« Alexis machte sich ärgerlich frei. »Was ist los mit dir?«
»Sei vorsichtiger«, fuhr sie ihn an. »Was, wenn du dich verlaufen hättest?«
»Verlaufen?« Alexis lachte laut auf. »Man sieht das Schiff doch aus fünf Meilen Entfernung.«
Als Calder den Kindern zurück zum Schiff folgte, bemerkte er die alte Japanerin neben sich. Er wollte Rasputins ungehöriges Verhalten vor Ana und Alexis verbergen, weswegen er sich zurückfallen ließ, damit sie die Unterhaltung nicht hören konnten.
»Du solltest in unserer Nähe bleiben, bis wir eine Tür heraufbeschwören können«, sagte er. »Aber nicht, indem du dich in einem Körper versteckst.«
»Wollt ihr nach Kalifornien?«, fragte Rasputin.
Calder hätte ihn am liebsten geschüttelt. »Warum hat diese Frau zugestimmt, dass du sie kontrollierst?«
»Sie hat geträumt«, bekannte Rasputin. »Wenn sie aufwacht, verjagt sie mich wahrscheinlich.«
Calder hielt inne, packte einen der dünnen Arme und kniff in das gestohlene Fleisch. »Wach auf!«, schrie er.
Das Gesicht der alten Frau zuckte, und sie funkelte Calder aufgebracht an. »Fassen Sie mich nicht an«, schimpfte sie auf Japanisch und trippelte davon.
* * *
Die drei gingen an Bord des Schiffes und blieben bis zum nächsten Tag in ihrer Kabine, bis Japan außer Sichtweite war. Alexis wollte an Deck, und da Calder keinen von beiden allein lassen wollte, gingen sie zu dritt, Ana zwischen den beiden Männern. Calder gab ihr seinen Mantel, auch wenn weder Hitze noch Kälte die Kinder zu beeinträchtigen schienen. Ana hakte sich bei ihren beiden Begleitern unter. Normalerweise wäre es ein süßer Genuss für Calder gewesen, so herumzuspazieren, doch er beobachtete nervös die Schatten und die Gesichter der Mitreisenden, aus Angst, wann sie als Nächstes von den Toten heimgesucht würden. Er hoffte immer noch, dass der Captain von ihrer Misere gehört hatte und ihnen bald Hilfe schickte.
Die meisten Passagiere blieben in ihren Kabinen oder saßen in Decken gehüllt in Liegestühlen. Die weiten Flächen und die große Metallreling, die alle weiß gestrichen waren, erinnerten Calder an ein Krankenhaus. Was einmal eine luxuriöse Lounge gewesen sein musste, war jetzt mit Feldbetten und Klappstühlen belegt, auf denen die Menschen dicht an dicht saßen oder schliefen. Was einmal eine Turnhalle gewesen war, war nun mit Kisten und Kästen vollgestellt, auf denen Passagiere saßen und einen Kinofilm ansahen, der auf die weiße Wand am Raumende projiziert wurde. Die drei schlenderten langsam daran vorbei und spähten durch die großen Fenster.
In dem Film stolperte ein junger Mann gerade durch einen Blizzard und brach nur wenige Meter vor einem Haus zusammen, das er nicht sehen konnte. Er starrte ins Leere, während der Schnee ihn immer weiter bedeckte. Calder konnte sich an seinen eigenen Tod erinnern, an den Winter, als er mit neunzehn gestolpert und ins Wasser gefallen war. Wie er noch genug Kraft gehabt hatte, um zurück auf den Pier zu klettern, jedoch nicht, um die folgende Nacht zu überleben.
Nachdem sie das Heck umrundet und die andere Seite an der Turnhalle erreicht hatten, sprach Ana, als ob sie seine Gedanken lesen könne.
»Vergessen die Seelen, wie sie gestorben sind, wenn sie in den Himmel kommen?«
»Auf eine gewisse Weise erinnern sie sich«, erwiderte Calder. »Doch es bereitet ihnen keinen Schmerz mehr.«
»Als meine Mutter starb, war sie also nicht ängstlich oder traurig?«
Calder bedeckte ihre Finger mit seiner Hand. »Das ist richtig«, sagte er.
»Hatte Vater einen anderen Begleiter?«
»Ja. Jeder hat seine eigene Tür und seinen eigenen Begleiter.«
»Wie sieht die Tür aus?«, fragte Alexis. Als Calder ihm erklärte, dass sie alle verschieden waren, meinte der Junge: »Meine sollte dann aus Feuer sein.«
Der Seelenhüter sah ihre Spiegelbilder in dem großen Fenster und war erschrocken. Für einen Moment dachte er, Rasputin folge ihnen, dabei erblickte er sich selbst.
Ana wollte detailliert wissen, was ihre Eltern und Schwestern nach dem Tod erlebt hatten, und so erzählte Calder ihnen von dem Theater, dem Festmahl, der Galerie und dem Garten.
»Wie sehen die anderen Begleiter aus?«, fragte Alexis.
»So wie du sie aussehen lässt.«
»Was, wenn ich möchte, dass er wie ein Frosch ist?«
»Wenn du im Moment deines Todes von einem Frosch begleitet werden willst, dann wird das auch
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