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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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fürchtete, dass Iljas Freundin mittlerweile ein Telefon gefunden haben könnte.
    »Danke, ja, das wäre sehr freundlich.« Gemeinsam mit Alexis half er Ana auf den Rücksitz. Auf dem Vordersitz lag ein Berg seltsamer Kleidung, außerdem etwas, das wie der Kopf und das Fell eines Tigers aussah.
    »Brauchst du einen Arzt?«, fragte die Fahrerin.
    »Nein, es geht ihr wieder gut«, antwortete Calder rasch. Dabei wusste er, dass es ihr sehr schlechtging, und es schmerzte ihn, dass er sie nicht vor einem gebrochenen Herzen bewahren konnte.
    »Vielleicht ist es die Hitze. Ich bin Margie.« Die Frau warf den Kindern im Rückspiegel einen Blick zu. Ana hatte weinend die Hände vors Gesicht geschlagen, während Alexis wütend zurückstarrte. »Wo wollt ihr hin?«, fragte sie.
    »Zu einem Hotel«, sagte Calder. »Nicht zu nahe …« Er wusste nicht recht, wie er ausdrücken sollte, dass sie schnellstmöglich weit weg von hier wollten, ohne den Eindruck zu erwecken, dass sie auf der Flucht waren.
    »Verstehe«, sagte Margie zwinkernd. »Ich schau mal, was sich da machen lässt.«
    »Hör auf zu weinen«, flüsterte Alexis. »Du hast ihn nicht getötet.« Der Junge tätschelte seiner Schwester den Rücken, warf Calder jedoch einen verärgerten Blick zu.
    »Woher seid ihr denn?«, fragte Margie, vielleicht weil Alexis Russisch gesprochen hatte.
    Unter Tränen sagte Ana: »Ich werde niemals eine Braut sein. Ich werde nie …« Sie unterbrach sich. »Ich werde nie ein Kind haben.« Als Alexis versuchte, den Arm um sie zu legen, schüttelte sie ihn ab. »Fass mich nicht an.« Dann musterte sie Calder. »Dir haben wir das alles zu verdanken«, sagte sie. »War dir nicht bewusst, wie abscheulich es war, uns nicht mit den anderen in den Himmel gehen zu lassen?«
    »Warte, bis wir allein sind«, flüsterte Alexis.
    Margie schien neugierig zu sein, konzentrierte sich jedoch auf den Verkehr. Sie fuhren an Feldern und Hütten vorbei auf eine breitere, von Orangenbäumen gesäumte Straße und über ein ausgetrocknetes Flussbett. Calder blickte über die Schulter aus dem Rückfenster – niemand folgte ihnen.
    »Ohne den Schlüssel sitzen wir hier fest, nicht wahr?«, fragte Ana. »Es erscheint einem wie Leben, aber es ist keins. Wir können nicht sein, wer wir sind. Wir haben kein Zuhause, weil wir nicht altern. Wir werden nie sterben.«
    »Ich will keinen Ärger.« Margie blickte erneut im Rückspiegel zu Calder. Sie verstand wohl kein Russisch, aber Anas Verzweiflung und Wut irritierten sie.
    Calder wusste, dass Ana jedes Recht hatte, wütend zu sein. Es war seine Schuld. Sie verstummte, ignorierte ihn, erlaubte aber Alexis, ihre Hand zu nehmen. Nach langen Minuten erreichten sie eine Stadt voller Geschäfte, Autos, Restaurants und Apartmenthäuser.
    »Ist das okay?« Margie hielt vor einem heruntergekommenen Gebäude, an dem ein Schild mit der Aufschrift
Good Knight Inn
angebracht war. Die schmale Fassade um die Tür sah aus wie ein Fallgatter, abblätternde, gemalte Efeuranken umgaben ein kleines, rundes Fenster.
    »Zu billig?«, fragte Margie. »Sollen wir weitersuchen?«
    »Nein«, antwortete Calder und bot ihr Geld an.
    »Behalt es, Schätzchen«, sagte sie und fuhr winkend davon.
    Alle Geschäfte um das kleine Hotel herum schienen nach etwas viel Größerem benannt zu sein, als sie tatsächlich darstellten. Das winzige Restaurant auf der Straßenseite gegenüber nannte sich
Silver Spoon.
Der Friseursalon mit den schmuddeligen Vorhängen im Fenster hieß
Magic Touch.
Selbst die Tankstelle, wo ein staubiger Lastwagen stand, hieß
Victory.
    Der Mann an der Hotelrezeption trug eine rote Smokingjacke über einem dreckigen Unterhemd, um etwas vornehmer zu wirken. Sie buchten ein Zimmer für eine Nacht, ein Vater mit seinen zwei Kindern. Als sie den düsteren Korridor entlanggingen, sprach Ana zum ersten Mal wieder.
    »Es war meine Schuld«, sagte sie sanft. »Ich hätte Mutter oder Vater den Schlüssel geben sollen.«
    Der Seelenhüter wollte ihr widersprechen, doch ihm fehlten erneut die Worte. Alexis ging voraus und wartete ungeduldig mit düsterem Gesichtsausdruck vor ihrer Zimmertür. Calder hob den Schlüssel, der aussah wie jeder andere irdische Schlüssel auch – lang, flach, schwer und schwarz. Er hing nicht von einer Kette, sondern war an einem Stück Pappe befestigt, auf das jemand eine Siebzehn gemalt hatte. Plötzlich kam Calder ein eigenartiger Gedanke, bei dem sich ihm die Haare im Nacken aufstellten.
    Was, wenn nicht

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