Seelenhüter
auf ihn einprügelte. Doch das Mädchen blies weiter vergnügt auf dem Schlüssel, der offensichtlich eine getarnte Pfeife war.
Alexis wartete am Eingang. »Warum muss es unbedingt ein echter Schlüssel sein?«, fragte er.
Calder verstand nicht, worauf der Junge hinauswollte.
»Warum kann es nicht ein Geheimnis sein, das wir aufdecken müssen, oder ein Code, den es zu knacken gilt, um die Himmelstür zu öffnen?«, fuhr Alexis fort. »Wieso muss es ein kleines Metallding sein, das verlorengehen kann?«
»Weil es so ist«, antwortete Calder. »Ich hätte ihn dir nicht geben dürfen, ohne dich umfassend einzuweisen.«
»Hast du damit Vorschriften gebrochen?«
»Nein«, sagte Calder. »Aber ich habe meine Gebote verletzt, als ich auf die Erde kam und mich in Rasputins Körper versteckte.«
»Was musst du tun, um es wiedergutzumachen?«, fragte Alexis. Als Calder ihn nur verständnislos ansah, erklärte er: »In den Märchen, die Olga uns immer vorgelesen hat, hat der Held immer genau das getan, was man ihm verboten hatte. Die Hexe oder der Einsiedler oder der magische Vogel hatte gesagt …«, Alexis ahmte die Stimme eines Zauberers nach, »… ›Was auch immer du tust, sieh niemals die Prinzessin nach Sonnenuntergang an‹, oder: ›Frag den Elfen nicht nach seinem Namen‹, oder: ›Fass ja nicht die Rose des Königs an.‹ Natürlich tut der Held immer genau das. Jedes Mal. Und dann muss er alles wiedergutmachen. Die sieben Mitternachtsberge besteigen, den verbannten Prinzen finden oder den Stein der Ehre zur Höhle des Ogers bringen. Du verstehst?«
»Ja«, meinte Calder. »Nur das hier ist kein Märchen.«
»Oh doch«, sagte Alexis. »Alles ist ein Märchen. Die Geschichten kommen aus dem wirklichen Leben. Wenn eine Geschichte zum ersten Mal erzählt wird, ist sie wahr. Jeder, der sie weitererzählt, ändert etwas daran, und irgendwann ist es ein Märchen.«
Man hatte Calder aufgetragen, eine verlorene Seele zu retten, ihm jedoch nicht erklärt, wie.
»Du musst nach Zeichen suchen«, schlug Alexis vor.
Das klang einfach, doch Calder wurde schwer ums Herz vor Zweifel. Gerade wollte er den Jungen fragen, was für Zeichen das in den Märchen waren, als die Straße dunkel wurde. Für eine Sekunde verlöschten alle elektrischen Lichter, und als sie wieder zum Leben erwachten, zersprangen die Glühbirnen über ihren Köpfen. Calder zog den Jungen hastig beiseite, als der Metallrahmen des P krachend auf den Gehsteig fiel. Fassungslos starrten sie nach oben, wo immer noch Funken aus der Leuchtschrift sprühten. Als auch das S folgte, zerrte Calder Alexis um eine Ecke zurück zum Hotel.
»Wenn das ein Zeichen war, dann verstehe ich es nicht«, sagte er.
»Wirst du von Geistern verfolgt?«, fragte Alexis. »Wie in der Kirche in Jekaterinburg?«
Der Junge hatte vollkommen recht, doch Calder wollte ihn nicht beunruhigen. »Das war nur das Gewitter«, sagte er einfach, da nun auch Wind aufkam, Donner grollte und Blitze über den Himmel zuckten.
Als sie zu dem Zimmer zurückkamen, war die Tür unverschlossen.
Der Seelenhüter hätte höflichkeitshalber geklopft, doch Alexis trat einfach ein. Er hielt abrupt inne, ging dann zu dem Bett und setzte sich mit dem Gesicht zur Wand darauf. Jetzt sah auch Calder, was den Jungen so verschreckt hatte. Die Tür zum Badezimmer stand offen, und Ana lehnte vor dem Spiegel über dem Waschbecken. Ein vertrauter Anblick erwartete ihn: ein Vogelnest aus abgeschnittenen Haaren bedeckte das gesamte Waschbecken.
24.
A na hatte ihr goldbraunes Haar bis auf die Kopfhaut abgeschnitten, und es war keinen Deut hübscher als bei Calder. Zitternd und bleich starrte sie auf ihr Spiegelbild. Dieser Anblick ließ den Seelenhüter für einen Moment schwindeln, ebenso die Vorstellung, dass sie wie eine verlorene Seele mit der Verzweiflung kämpfen musste. Er packte den Stuhl neben dem kleinen Tisch, trug ihn zu Ana und drückte sie sanft darauf nieder. Sie ließ es geschehen, legte die Hände in den Schoß, die rostige Schere noch zwischen den Fingern. Calder lehnte die Badezimmertür an, damit der Junge sie nicht hörte, dem Anstand aber Genüge getan war.
Ana blickte mit großen Augen zu ihm auf.
»Er hat mich nie geliebt.«
Sachte nahm er ihr die Schere ab und legte sie ins Waschbecken.
»Einmal hatten wir Läuse«, erzählte Ana, »und mussten uns die Haare scheren. Ilja hat die Fotografien gesehen und gesagt, dass ich immer noch wunderschön war.« Sie betastete den Hinterkopf.
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