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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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handelte. Das Mädchen, das einen Penny eingeworfen hatte, runzelte die Stirn bei dem Lied und wandte sich der nächsten Attraktion zu.
    Calder starrte den langen Gang entlang, der unendlich zu sein schien, und beobachtete Alexis, der vor einem Glaskasten stand, in dem eine menschengroße Puppe langsam ihre Gipshände über drei Tarot-Karten bewegte. Da überkam ihn das Gefühl, dass sich ganz in der Nähe etwas versteckte. Er überprüfte jede Glasfläche auf Spiegelungen und jede Ecke zwischen den Maschinen. Mit jedem Schritt, mit dem er sich Alexis näherte, überlagerte etwas Irreales die Wirklichkeit.
    Bei jedem Wimpernschlag stürzten neue Erinnerungen auf ihn ein. Eine dicke Bulldogge schleckte eine Pfütze geschmolzenes Eis vom Boden auf, und als Calder blinzelte, saß neben der Bulldogge sein alter, vernarbter Köter. Eine Frau griff in die Tasche ihres Mannes und holte ein Taschentuch hervor, mit dem sie sich über den Nacken fuhr, und nach einem Blinzeln erschien neben ihr Pincher, der dasselbe Taschentuch aus einem Lederbeutel am Gürtel eines alten Mannes zog. Ein junger Mann warf einen gewonnenen Gummiball hoch in die Luft und fing ihn mit einer Hand hinter dem Rücken wieder auf. Calder blinzelte, und zwei Tauben flogen zum Dach des Ganges auf, das gleichzeitig auch das Dach einer alten Kirche war. Zu den Bildern gesellten sich Gerüche, Geräusche und Schmerz.
    Als sich seine Sicht endlich wieder geklärt hatte, sah er Alexis am anderen Ende des Säulengangs vor einer Reihe schwarzer Kästen stehen. Zwei Männer neben ihm beugten die Köpfe nach vorne, die Gesichter von sanften Lichtblitzen beleuchtet. Der Junge bedeutete Calder, zu ihm zu kommen. In den Kästen bewegten sich Bilder, und in dem einen wurde laut Beschilderung eine berühmte Akrobatenfamilie gezeigt, die ihre Kunststücke vorführte. Ein anderer sollte eine Komödie mit einem ernsten, Brille tragenden Professor und einem pausbäckigen Mann mit einer Narrenkappe zeigen. Doch als Calder sich vor das Sichtgerät stellte und einen Penny einwarf, begann ein Film über einen Jungen und ein Mädchen, die von ihren Eltern getrennt wurden. Sie standen auf einer schwimmenden Eisscholle, durch die sich bereits große Risse zogen. Die Eltern waren auf einer anderen Scholle gestrandet und winkten panisch, woraufhin die Kinder auf die Knie fielen und weinend die Hände ausstreckten, weil der Fluss sie davontrug.
    Calder sprang zurück, als wäre der Kasten eine zuschnappende Schlange.
    »Es wäre so lustig, wenn ich es mit Ana und den anderen anschauen könnte«, sagte Alexis dicht neben ihm. »Komm, wir gehen. Hier gibt es nichts Interessantes mehr zu sehen.«
    Sie überließen die restlichen Pennys zwei Kindern, die in der Nähe herumstanden.
    Als Calder Alexis durch den Bogengang zurück auf die Straße folgte, spielte eine Maschine links neben ihm einen Moll-Akkord und spuckte einen Preis für ihn aus. Eine kleine Rinne öffnete sich, und ein Spielzeug fiel ihm vor die Füße. Niemand stand in der Nähe, der eine Münze eingeworfen haben könnte, und Alexis war fast schon am Eingang. Calder nahm das Ding auf – ein winziger Zinnschlüssel, der in einer Walnussschale Platz gefunden hätte, gelb und blau angemalt. Er wandte ihn hin und her, rieb mit dem Daumen darüber und versuchte es auf gut Glück noch einmal.
    »Hinter dieser Tür wartet der Himmel«, flüsterte er.
    Unmengen von Ersatzhimmeln umgaben ihn – an der Wand über der Bude der Wahrsagerin hing ein Plakat für Story-und-Clark-Orgeln mit Engelchen, die im Gras umhertollten, ein Mann in der Nähe hatte eine Harfe auf die Hand tätowiert. Als ein Lastwagen auf der Straße vorbeifuhr, sah Calder das gerahmte Bild auf der offenen Ladefläche, ein Gemälde, auf dem ein Engel träge über einem dunklen Fluss schwebte.
    Calder fühlte sich einsam und dumm. Die irdische Welt erschien ihm wie ein großes Haus voller seltsamer Dinge und Tricks, die alle dazu dienten, ihn zu quälen. Statt einer Tür hatte seine Beschwörung ein kleines Mädchen mit braunen Locken in einem zwei Nummern zu großen Kleid erscheinen lassen.
    Sie sah grinsend zu ihm auf, frech und zugleich schüchtern, wie es nur ein kleines Kind konnte. Ihr Charme war so unwiderstehlich, dass er ihr den Spielzeugschlüssel anbot. Sie legte ihn an die Lippen und blies hinein. Calder zuckte bei dem schrillen Geräusch vor Überraschung zusammen. Halb erwartete er, dass die Polizei von allen Richtungen auf ihn zugelaufen käme und

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