Seelenhüter
Zeitung fallen ließ und beide Hände aus der Sonne bewegte, fingen sie tatsächlich an zu glühen. Noch nicht sehr hell, doch sie strahlten reines weißes Licht aus.
Verwirrt wandte sich Alexis seiner Schwester zu und flüsterte: »Dein Gesicht.«
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Teil V
Das Erstrahlen
27.
E s stimmte – Anas Gesicht leuchtete ebenfalls unnatürlich, zumindest nach menschlichen Maßstäben.
»Calder!«, rief das Mädchen laut, obwohl er genau neben ihr saß.
Er wusste, was mit ihnen geschah, und verfluchte sich, dass er sie nicht gewarnt hatte. »Habt keine Angst«, sagte er so beruhigend wie möglich.
»Ich … ich strahle«, stotterte Ana. »Ich bin …« Sie zog sich vom Tageslicht zurück, das durch das Fenster strömte, um ihre Finger im Schatten zu betrachten.
Alexis versteckte beide Hände unter den Armen.
»Das ist das Erstrahlen.« Calder nahm seinen Mantel ab und legte ihn über die Kinder. »Ich bin gleich zurück.« Er war dankbar, dass sie allein waren.
Der Seelenhüter schämte sich und war nervös, weil er so wenig über diesen Zustand wusste. Er hatte Gerüchte gehört, und im neunten Psalm wurde es kurz erwähnt, doch er wusste nicht genug. Schmerzte es? Nahm es auf der Erde an Intensität zu? Wie würde es für die Menschen aussehen? Warum sollte irgendwer in der Welt der Lebenden das Erstrahlen bemerken? Begleiter konnten sie ja auch nicht wahrnehmen. Andererseits waren Ana und Alexis keine richtigen Begleiter. Dennoch musste Calder sicherheitshalber etwas auftreiben, mit dem sie sich verhüllen konnten. Man durfte sie nicht wie Monstrositäten anstarren.
Er wusste, dass sein Vorhaben falsch war, und fürchtete, ertappt und des Zuges verwiesen zu werden und somit die Kinder allein zurückzulassen. Trotzdem ging er geradewegs in den nächsten Waggon, in dem zwei Dutzend Passagiere saßen, und trat in eine leere Sitzreihe hinter einen schlafenden Mann und eine Frau, die über ein Buch gebeugt dasaß. Einen Moment lang starrte er aufmerksam aus dem Fenster, nahm dann beiläufig die Hüte und Handschuhe von den Mänteln, die über der Lehne des Sitzes der Frau lagen, und ging davon.
Ana lugte unter Calders Mantel hervor, als er zurückkehrte.
»Zieht euch das hier an.« Er gab ihnen die Hüte, die beide zu groß waren. Ana, die bereits einen Hut hatte, nahm den Spitzenschleier von dem gestohlenen und befestigte ihn an ihrem. Der von Alexis reichte ihm bis zu den Ohren. Als sie sich die Handschuhe überzogen, verschwand das Glühen sofort. Der Schleier verdunkelte Anas Gesicht, und sie steckte ihn in den Kragen ihres Kleides, um ihren Hals zu verbergen. Das Gesicht ihres Bruders dagegen leuchtete immer noch wie eine Silbermünze im Sonnenlicht.
»Ist das eine Begleiter-Krankheit?«, fragte Alexis.
»Wenn ein Lehrling zu lange an seinen Lehrmeister gebunden ist oder wenn ihn der Lehrmeister zu lange unterweist«, erklärte Calder, »dann beginnt er zu strahlen. Es ist ein Warnsignal für den Captain, damit er merkt, wo die Kraft nicht fließt.« Vermutlich hatte er es nicht sehr verständlich beschrieben.
»Weil wir zu lange geblieben sind. Weil wir den Schlüssel nicht haben«, sagte Ana.
»Ja.« Calder erkannte, dass er die Zeichen ignoriert hatte – er hatte gedacht, die Blässe der Kinder rühre von Angst oder Erschöpfung her. Er war blind und dumm gewesen.
»Was ist mit meinem Gesicht?« Der Junge berührte seine Wangen.
»Warte.« Calder ging wieder durch den Zug, diesmal in den Waggon hinter ihnen.
Als ihm ein junges Paar entgegenkam, drückte er sich gegen die Sitze, um ihnen Platz zu machen. Er lächelte, und als die beiden an ihm vorbei waren, zupfte er an dem Schal der Frau und zog ihn ihr unbemerkt von der Schulter.
Er kehrte so rasch mit dem Diebesgut zurück, dass Ana fragte: »Warst du als Mensch ein Taschendieb?«
»Ja«, antwortete Calder.
Plötzlich wurde es wieder dunkel um ihn herum. Er fühlte den Schal in der linken Hand, ebenso wie die kleine Kartoffel in der rechten. Er stand auf einem Marktplatz zwischen Röcken, Schürzen und Stiefeln, die sich an seinem Versteck unter einem Gemüsekarren vorbeibewegten. Pincher zeigte ihm, dass man besser kleine Kartoffeln stahl, die man in der geschlossenen Hand verbergen konnte.
Kurz darauf befand er sich im Vestibül einer riesigen Kathedrale, lungerte am Eingang herum und beobachtete die vorbeischlendernden Gemeindemitglieder.
Laut Pincher wollte Gott, dass sie Licht hatten, daher würde es ihm nichts ausmachen,
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