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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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wo sie bei einigen ängstlichen Passagieren stand. »Wo ist Alexis?«, fragte er.
    Das Mädchen deutete kleinlaut nach oben. Ihr Bruder kletterte an einem großen Schornstein empor, indem er sich an der Verkleidung festklammerte und Halt an den Nieten suchte. Langsam arbeitete er sich nach oben, wo ein kleiner Junge in einem Strick festhing. Calder vermutete, der Junge hatte sich beim Klettern auf den Schornstein verheddert.
    An Deck standen die Mutter, der die Tränen übers Gesicht liefen, ein halbes Dutzend Zuschauer und zwei Stewards, die überlegten, wo sie ein Netz, eine Decke oder eine Leiter finden könnten. Aber schon im nächsten Moment war alles vorbei. Alexis packte den Jungen an der Jacke, gerade als der Ärmel, der sich verhakt hatte, entzweiriss. Kurzerhand legte er sich den Kleinen über die Schulter, wo er sich wie ein Äffchen festklammerte. Dann blickte er nach unten, um sich zu vergewissern, ob ihn etwas am Abstieg hinderte.
    »Aus dem Weg!«, rief er und sprang. Die Mutter des Kleinen schrie auf, doch Alexis landete auf den Füßen und stolperte einen Schritt nach vorn. Sein Gesicht war für einen Moment schmerzverzerrt, dann übergab er das Kind der Mutter. Die Menge starrte den Zarewitsch mit offenem Mund an, doch bevor ihm jemand gratulieren oder unbequeme Fragen stellen konnte, hatte Calder ihn und Ana schon nach unten aufs nächste Deck gedrängt.
    »Hier sind unsichtbare Geister unterwegs«, sagte er. »Gefährliche Geister, und es ist meine Pflicht, euch zu beschützen.«
    »Es tut uns leid«, sagte Ana nur, doch als sie sah, wie beunruhigt Calder immer noch war, begann sie zu erklären: »Es fing ganz unschuldig an. Alexis hat sich gelangweilt, und ich habe ihn gefragt, was er tun würde, wenn er wüsste, er wäre unverletzbar. Dann sind wir ein paar Geländer heruntergerutscht und haben Purzelbäume geschlagen. Auf einmal hat diese Dame ihr Sherryglas fallen lassen, und ein kleines Mädchen, das kaum laufen konnte, wollte nach den Scherben greifen, weshalb Alexis und ich die Splitter aufgehoben haben …«
    »Das hat weh getan«, warf Alexis ein, als wäre es eine faszinierende Entdeckung.
    »Und dann«, Ana zuckte mit den Schultern, »als wir den Jungen sahen …« Sie unterbrach sich. »Ich habe ihm noch gesagt, dass er das nicht tun soll.«
    Alexis lachte. »Hast du nicht.«
    »Ich habe gesagt, wir sollten einen Steward rufen«, antwortete seine Schwester. »Hat es weh getan, als du gesprungen bist?«
    »Ein bisschen.«
    Calder wusste, es war völlig normal, dass der Junge abenteuerlustig war und Dinge ausprobieren wollte, die er früher wegen seiner zarten Gesundheit nicht hatte tun dürfen. Ana hatte als Mensch nie mit ihm herumtollen können.
    »Alexis, der Beschützer.« Sie grinste ihren Bruder an und sagte zu Calder: »Das bedeutet sein Name.«
    »Das wäre ein guter Name für einen Begleiter«, sagte der Seelenhüter.
    »Wir könnten Zirkusartisten sein.« Alexis blickte zu Calder. »Du bist doch wie wir, oder? Du solltest deinen Körper ausprobieren. Es ist erfrischend.«
    Calder erinnerte sich an das Gefühl, erschossen, vergiftet, mit einer Kette geschlagen und ertränkt zu werden. »Danke, mir reicht, was ich erlebt habe«, sagte er. »Lasst uns einfach zusammenbleiben und uns aus allem heraushalten.«
    »Warum bindest du uns nicht mit Seilen an dich wie Bergsteiger?«, fragte Alexis.
    Ana versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Sei nicht so unhöflich.«
    Calder wünschte, es gäbe tatsächlich so etwas wie ein Netz für Begleiter. Dann wäre es sehr viel einfacher, verlorene Seelen wie Fische einzufangen.
    Plötzlich schrie Ana auf, und Alexis ging in Deckung, als eine Kette vom unteren Deck nach oben flog, über Calders Kopf hinweg. Sie schwebte erst hoch in der Luft und fiel dann auf ihn herab, wobei die einzelnen Glieder auf seine Schultern regneten und als Haufen stiller Eisenringe zu seinen Füßen liegen blieben. Alexis und Ana starrten ihn mit offenem Mund an. Daraufhin eilte er mit ihnen in die Kabine und lehnte sich gegen die verschlossene Tür, während die Kinder sich erschüttert auf ihre Koje setzten.
    »Nicht alle Geister sind im Himmel«, erklärte Calder. »Und manche sind sehr wütend auf mich.«
    »Die Geister?«, fragte Ana.
    »Wir nennen sie verlorene Seelen.«
    »Was wollen sie?«, fragte Alexis.
    »Unmögliche Dinge. Ich glaube nicht, dass sie mir etwas antun wollen«, log Calder. »Sie sind wie verwöhnte Kinder. Und gegen euch hegen sie

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