Seelenhüter
bezweifelte, dass sie Russisch sprach, dennoch bedeutete er Alexis, leiser zu sprechen.
»Verstehst du nicht, was das heißt?«, flüsterte Alexis.
»Du machst mir Angst«, antwortete seine Schwester. »Versuch nicht länger, dich selbst zu verletzen.«
»Deshalb ist es ja so gefährlich«, antwortete er. »Ich kann mich nicht verletzen. Wenn mich – oder uns – jemand gefangen nimmt und foltert, könnte er bis in alle Ewigkeit damit fortfahren. Wir würden leiden, aber nicht schwächer werden oder sterben. Man könnte uns für immer quälen.«
»Warum sollte irgendwer das wollen?«, fragte Ana.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ihr Bruder. »Wenn jemand den Verstand verloren hat oder Groll gegen uns hegt.«
Endlich gewann der Zug an Fahrt und rollte aus dem Bahnhof. Das Baby war dabei einzuschlafen, seine Lider senkten sich immer weiter, als die Mutter zu weinen anfing. Die Frau bedeckte den Mund mit einer Hand, doch ihr Zittern weckte das Mädchen, das Calder interessiert beobachtete.
Der Soldat ihnen gegenüber sank immer mehr zusammen, je schneller der Zug wurde. Der Rhythmus von Licht und Schatten und der draußen vorbeiziehenden Landschaft zog über sein Gesicht und ließen ihn erbeben.
Calder war schon oft Soldaten begegnet, die gebrochen aus dem Krieg heimgekehrt waren, doch jetzt fürchtete er, dass alles in der Welt der Lebenden durch seinen Bruch der Gebote verschlimmert wurde.
Was, wenn die junge Mutter frisch verwitwet war und sich in diesem Moment die Seele ihres Mannes an sie klammerte, wie die Frau in der Kirche, deren toter Mann Calder für den Teufel gehalten hatte? Was, wenn der Soldat von seinen gefallenen Kameraden verfolgt wurde? Und das alles nur wegen Calder …
Er musste etwas unternehmen und überlegte fieberhaft, aber ihm fielen nur alberne Dinge ein. Irgendwann begann er zu singen und summte die Melodie eines Kinderpsalms, wofür er sich den Fahrtrhythmus zunutze machte.
Die Frau mit dem Baby atmete tief durch und lauschte, dann schniefte sie, und ihre Tränen versiegten. Ihre Tochter bewegte sich ein wenig und schloss die Augen. Der Soldat setzte sich langsam wieder normal hin und entspannte sich. Einer seiner Füße näherte sich dem Boden, eine Hand kam auf dem Knie zu liegen, und er lehnte sich gegen das Fenster, das Gesicht entspannt.
Als Calder zum dritten Mal die Melodie anstimmte, summte Ana mit.
Er fand es bedauernswert, dass die Frau und ihr Kind keinen Mann hatten und der Soldat keine Familie, die ihn daheim willkommen hieß. Er wünschte, er könnte die beiden einander zum Geschenk machen, und realisierte nicht, dass dies bereits der Fall war.
»Sophie?«, sagte der Soldat überrascht.
Die Frau mit dem Kind stand langsam auf und setzte sich neben ihn, während das Baby selig weiterschlief. Sie redeten kein Wort, aber der Mann legte ihr den Arm um die Schulter und streichelte den Kopf des Kindes.
* * *
Beim ersten Halt stiegen Sophie, der Soldat und das Kind aus. Alexis entdeckte eine Zeitung auf einem leeren Sitz und holte sie, um sie mit Ana zu lesen. Auf der Titelseite waren ein Bericht über die steigende Zahl von Grippetoten sowie von einem Straßenkampf wegen der Rationierung des Essens. Die beiden hielten je ein Ende der aufgeschlagenen Zeitung, während der Zug aus dem Bahnhof rollte.
»Was steht da?«, fragte Alexis und zeigte auf eine Überschrift. »Das kann nicht stimmen. Russland ist seit Monaten nicht mehr am Krieg beteiligt. So viele Männer haben wir nicht verloren.«
»Eine Million siebenhunderttausend Tote«, las Ana, »sechshunderttausend Verwundete …«
»Das muss ein Fehler sein«, sagte Alexis.
Calder war erschüttert angesichts dieser Zahlen. »Wie konnte so ein Krieg beginnen?«, fragte er.
»Die Serben haben den Erben des österreichischen Throns ermordet«, erklärte Alexis, »weshalb Österreich ihnen den Krieg erklärt hat. Daraufhin ist Russland ihnen zur Seite geeilt, um gegen Deutschland zu kämpfen.« Er überlegte einen Moment. »Wenn wir mehr Züge und Nachschub gehabt hätten, dann hätten wir sie besiegt.«
»Stattdessen hatten wir die Revolution«, sagte Ana seufzend. Dann unterbrach sie sich. »Alexis?«
Sie war kreidebleich, ihre Augen auf die Hand ihres Bruders gerichtet, die im Schatten lag. Ihre Haut glühte so weiß wie der Vollmond, wie Calder jetzt bemerkte.
»Deine Hand …«, begann sie, wusste jedoch nicht weiter.
Der Junge hob die Finger ins Licht, wo sie ganz normal aussahen, doch als er die
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