Seelenhüter
Menschenmassen oder Krankenhäuser machen.«
Als der Zug Potters Bar erreichte, löste sich das dunkle Etwas explosionsartig auf. Calder suchte alles genau ab, bevor sie ausstiegen. Danach warteten Ana und Alexis auf einer Bank, während er ihnen weitere Schutzkleidung kaufte. Sie versteckten sich hinter einer Zeitung, um so das Erstrahlen zu verbergen, doch Ana las auch aufmerksam.
»Deutschland wird schwächer.« Sie überflog die Seite, während sie den Artikel für ihren Bruder übersetzte. »Die Amerikaner haben dreißigtausend Männer zusätzlich nach Belgien, Frankreich und Deutschland geschickt.«
»Versucht es mal damit«, unterbrach Calder sie. Er hatte Puder und einen Männerschal für Alexis gekauft.
Ana ging mit dem Puder auf die Damentoilette und kam schneller als erwartet zurück, Gesicht und Hals von einer fleischfarbenen Schicht bedeckt. Ihre Fußknöchel und Arme musste sie ebenfalls abgedeckt haben, denn sie trug weder Schleier noch Handschuhe. Sie reichte Alexis die Dose, der sie indigniert in seiner Tasche verschwinden ließ.
»Stell dir vor, es wäre Theaterschminke«, flüsterte sie. »Die ganzen großen Schauspieler benutzen das auch.«
Calder und Alexis gingen gemeinsam auf die Herrentoilette. Da sie allein waren, konnten sie sich einfach vor die Waschbecken stellen und mussten sich nicht in eine Kabine zurückziehen. Calder half dem Jungen, sein glühendes Gesicht mit Puder zu kaschieren. Auch wenn seine Haut in einem himmlischen Licht schimmerte, wirkten seine Augen dunkler, ebenso wie bei seiner Schwester. Der Seelenhüter war erleichtert, dass sie nicht noch Sonnenbrillen besorgen mussten. Er puderte den Nacken des Jungen, der sich Hände und Handgelenke schminkte. Seltsamerweise schien die von ihm ausgehende Wärme den Puder in die Haut des Jungen zu brennen wie eine dünne Schicht neutraler Farbe, mit der ein Künstler Leinwände grundiert.
»Lächerlich.« Der Junge schüttelte beim Anblick seines Spiegelbildes den Kopf und ließ Schal und Handschuhe in dem Hut auf der Ablage des Waschraums liegen.
»Sei froh, dass du keine gepuderte Perücke tragen musst«, sagte Ana, als sie die Puderdose verstaute.
»Die großen Schauspieler tragen kein Make-up«, jammerte ihr Bruder. »Douglas Fairbanks ist auch nicht gepudert.«
»Vielleicht nicht«, lenkte Ana ein. »Dafür habe ich gehört, dass er einen Hüfthalter trägt.«
Alexis musste grinsen. Der Stationsvorsteher rief zum Einsteigen in den nächsten Zug auf und gab das Signal zur Abfahrt. Vor ihnen stieg ein Mann ein und ging durch den Waggon. Er war vornehm gekleidet und trug einen Gehstock mit Silberknauf, und selbst Calder erinnerte er im ersten Moment an Nikolaus. Ana wandte sofort den Blick ab, doch Alexis sah zu, wie der Mann einen Platz auswählte und sich niederließ.
»Erinnerst du dich an deinen Vater?«, fragte der Junge.
»Ich hatte nie einen.«
»Wie ist dein Captain?«
Calder war überrascht, wie schwer die Frage zu beantworten war. Alexis vermisste ohne Zweifel seinen Vater. »Er ist weise und stark. Und geduldig.«
»Vermisst du ihn, wenn du weit weg von ihm bist?«
»Wenn es für lange ist, schon«, sagte Calder, »so wie jetzt.«
Sie stiegen ebenfalls ein und gingen schweigend an dem bärtigen Mann vorüber. Ana wählte den nächsten Waggon.
»Was macht ihr zusammen?«, fragte Alexis weiter. »Du und dein Captain?«
»Er hört meinen nächtlichen Gebeten zu, und wenn ich Seelen zu ihm bringe, dann empfängt er sie und fährt sie über den Großen Fluss.«
»Worüber redest du mit ihm?«, fragte der Junge.
Calder war verwirrt. »Reden? Wenn der Captain bei mir ist«, sagte er, »dann ist er meist einfach nur da.«
»Das finde ich auch gut«, erwiderte Alexis.
Calders Magen verkrampfte sich, als ihm erneut Rauchgeruch in die Nase stieg. In der Mitte des Bahnsteigs formte sich eine dicke schwarze Wolke, die auf und ab wogte. Eine Frau eilte die Gleise entlang, ohne den Zug zu erreichen, und schrie auf, als die schwarze Wolke sie traf. Calder sprang hoch und versuchte zu sehen, was mit der Frau geschah. Sie stolperte rückwärts, wobei ihr der Schirm aus der Hand gerissen und gegen einen Pfeiler geschleudert wurde. Er eilte gegen die Fahrtrichtung durch den Waggon und blickte aufgeregt durch die Fenster. Ein Bediensteter wollte der Frau zu Hilfe kommen, wurde jedoch von der Schwärze zurückgeworfen. Gerade als eine Baumgruppe Calder die Sicht versperrte, sah er den Mann auf der Seite liegen, mit
Weitere Kostenlose Bücher