Seelenhüter
wenn sie jeder eine Kerze nähmen.
Als Nächstes versteckte er sich unter einer Brücke, allein und weinend.
»Genug«, flüsterte Calder.
»Was ist los?«, fragte Ana besorgt.
»Ich habe mich an Szenen aus meinem irdischen Leben erinnert.« Er hielt den Schal in die Richtung, in der er Alexis vermutete. »Wickel ihn dir um.« Sein Sehvermögen kehrte zurück, als der Junge den weichen schwarzen Stoff nahm und empört die Stirn runzelte.
»Das ist ein Frauenschal«, beschwerte er sich.
»Alexis.« Ana klang tadelnd wie eine Mutter.
Der Junge wand sich den Stoff lose um Hals und Kinn und zog dann die Hutkrempe bis fast auf die Nasenspitze.
Calder war erleichtert, dass die Kinder nicht länger leuchteten, doch er wusste, dass er nach ihrer Ankunft in Norfolk bessere Verkleidungen besorgen musste.
Ana bewunderte die Verhüllung ihres Bruders. »Der Schal riecht gut«, sagte sie.
Alexis knurrte genervt und setzte sich eine Reihe weiter nach hinten, wo er sich gegen das Fenster lehnte. Calder verspürte einen Hoffnungsschimmer – das Erstrahlen sollte den Captain aufmerksam machen. Wenn er dieses Licht bemerkte, schickte er sicher Hilfe.
»Auf der Passage werdet ihr wieder ihr selbst sein«, versicherte Calder, als er sich neben Ana setzte.
»Das ist ungerecht.« Alexis trat gegen die Lehnen ihrer Sitze. »Endlich hatte ich Spaß, und jetzt muss ich mich unter anderer Leute Kleider verstecken. Das ist abscheulich.«
»Was wäre, wenn wir uns nicht verhüllen würden?«, fragte Ana. »Was würden die Leute dann denken?«
Ana nahm an, dass die Menschen das Strahlen sehen konnten. Eine naheliegende Vermutung.
»Wen kümmert es schon, was die denken?«
»Ich frage mich, was sie tun würden«, sagte Ana. »Vielleicht würden uns alle in der Stadt bewundern.«
»Wahrscheinlich hätten sie Angst«, sagte Alexis, »und würden davonlaufen.«
»Oder sie würden uns einsperren.«
»Das sollen sie nur versuchen.« Alexis wurde ruhiger.
»Vielleicht würden sie uns auch nur ins Krankenhaus bringen«, sagte Ana, »und Tests an uns durchführen.«
Der Junge verschränkte seufzend die Arme und starrte aus dem Fenster. Nach einer Weile sagte er: »Was ist, wenn Onkel und Tante uns ins Krankenhaus bringen wollen?«
»Sie werden uns helfen, uns zu verstecken«, erwiderte Ana. »Wir sind dort sicher.«
»Wenn sie uns hätten helfen wollen, hätten sie uns schon vor langer Zeit zu sich geholt.«
Calder hätte ihnen nur zu gern geholfen, hatte jedoch keine Ahnung von den Geschehnissen zu der Zeit, als er in Rasputins Grab lag. Hatte die Familie ihre englischen Verwandten um Asyl gebeten? Hatte man ihnen Hilfe verwehrt?
»Sie hatten Angst«, erklärte Ana. »Jetzt geht Onkel George kein Risiko ein, da niemand weiß, dass wir hier sind. Willst du nicht Johnnie wiedersehen? Er mag dich sehr.«
»Sie haben uns nicht geschrieben.« Alexis bog die Hände in den ungewohnten Handschuhen.
»Wie hätten sie das auch tun können?«
Calder verharrte bewegungslos. Eine viel schwerere Dunkelheit als alles, was er bisher gesehen hatte, hing wabernd am anderen Ende des Waggons.
Alexis seufzte und setzte sich wieder neben seine Schwester. »Glaubst du, sie haben für uns gebetet?«
»Ich bin mir sicher«, antwortete sie. »Jede Nacht. Jeden Morgen, wenn Vater uns vorgelesen hat, hatte ich so ein seltsames Gefühl. Das muss der Sonnenaufgang in Norfolk gewesen sein. Mir wurde ganz warm, genau hier.« Sie legte eine Hand unter die rechte Brust.
Alexis schnaubte herablassend. »Das Herz ist auf der anderen Seite.«
»Nicht meines«, sagte sie. »Genau hier, wo Johnnie seine Wange hingedrückt hat, wenn er mich umarmt und mir guten Morgen gewünscht hat.«
Calder beobachtete den dunklen Umriss aus dem Augenwinkel. Das Gebilde verharrte pulsierend, und der Geruch nach verbranntem Haar stieg ihm in die Nase.
»Unser Cousin ist nicht ganz normal«, erklärte Alexis.
»Das stimmt nicht, er ist der liebste Mensch, den ich kenne«, protestierte Ana. Sie überlegte einen Moment und räumte dann ein: »Er ist besonders.«
»Er ist ein guter Junge«, sagte Alexis. »Er hat ein großes Herz, doch etwas ist anders an ihm.«
Ana sträubte sich immer noch, schwieg aber.
»Johnnie«, sagte Alexis, als ob er das Gesicht seines Cousins gerade vor Augen hätte, »ist ein lustiger Kerl.«
»Wir sollten zu Johnnie und Lalla gehen«, sagte Ana. »Sie werden uns verstecken, und wir müssen uns keine Sorgen über Politik oder Zeitungen oder
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