Seelenhüter
Geräusch einer weiteren Stimme zusammen.
»Es ist ja nicht so, als hätte sie dich vor einer Kirche oder einem reichen Haus abgelegt.« Die Stimme kam von der anderen Seite der Kellertür. »Sie hat dich in einer Gasse zurückgelassen und dir nicht mal Lumpen umgebunden.« Die Kellertür schwang auf, und eine rotgesichtige Frau griff mit ihrer großen Pranke nach ihm, um ihn an den Haaren aus dem Raum zu ziehen. »Ich will also kein Wort von dir hören. Wenn Mister Grundy sagt, steck die Hand in eine Tasche, dann machst du das. Wenn er dir die Augen verbindet, dann setzt du dich dorthin, wo er will, und bettelst.«
»Was ist los?«, hörte Calder Alexis fragen.
Ein Mann mit einem weiten, schlammbespritzten Umhang stapfte in die winzige Küche, nahm das Ende des Seils, das um Calders Hüfte geschlungen war, und führte ihn wie einen Hund in die eisige Luft hinaus, eine enge Gasse entlang auf eine belebte Straße.
»Hier.« Der Mann blieb stehen und schob Calder einen mit Lumpen umwickelten Stab unter den Arm. »Du bewegst dich keinen Schritt und hältst den Fuß hoch, verstanden?« Er riss Calders rechtes Hosenbein nach oben und zeigte ihm, wie man einen Lahmen spielte.
Da sah der Junge etwas, das ihn die Krücke wegwerfen und so schnell wegrennen ließ, dass das Seilende aus der Hand des Mannes gerissen wurde und hinter Calder wie eine Schlange herzuckte.
An diesem Tag war Calder dem Mann und der Frau entkommen, die ihn fünf Jahre lang am Leben gehalten hatten. Es war etwas ganz Simples, was ihm den Mut verliehen hatte, wegzurennen und die schlimmsten Schläge seines Lebens zu riskieren. Im Fenster einer vorbeifahrenden Kutsche hatte Calder eine Frau mit rotgoldenem Haar gesehen, die ihm zugelächelt hatte. Nicht nur hatte sie ihn überhaupt wahrgenommen, sondern sie hatte sich auch vorgebeugt, als ob sie mit ihm sprechen wolle. Calder war hinter der Kutsche hergerannt, schneller als je zuvor, über Kopfsteinpflaster und eine Brücke, mitten auf eine belebte Straße, auf der er auf verschiedene Kutschen, die für ihn alle gleich aussahen, aufsprang und verzweifelt versuchte, die Frau zu finden. Er bog erst in eine Straße ab und dann in noch eine. Eigentlich hätte es für ihn ein Freudentag sein müssen, da er aus dem Keller entkommen war, doch Calder empfand nur erdrückende Trauer, als er sich den Moment in Erinnerung rief, an dem er angehalten und die Suche aufgegeben hatte. Er war vollkommen erschöpft vor dem Eingang eines Friedhofs zu Boden gesunken, meilenweit von dem Ort seiner Flucht entfernt.
»Ich habe früher immer davon geträumt, mit Johnnie zu tauschen«, hörte er Alexis sagen.
»Wenn du Schmerzen hattest?«, fragte seine Schwester. Ihre Stimmen klangen nicht mehr so nah. Sie waren weitergegangen und hatten ihn blind im Wald stehen lassen.
»Nein«, erwiderte der Junge. »Wenn es mir gutging, ich aber trotzdem nicht herumrennen durfte, dann habe ich mir vorgestellt, wie ich mit Johnnie Hügel herunterrolle und niemals Unterricht habe.« Ihre Schritte verstummten. »Was ist los mit dir, Calder?«, rief Alexis.
Er wollte ihnen nichts von den Erinnerungsschüben und der damit einhergehenden Blindheit erzählen. Aber er hatte immer noch das eiserne Tor des Friedhofs und die Grabsteine dahinter vor Augen. Es wäre dumm gewesen, es ihnen zu verschweigen.
»Wenn ich mich an Dinge aus meiner Vergangenheit erinnere«, erklärte er, »sehe ich diese so klar vor mir, dass ich blind für die Gegenwart bin.« Er hörte, wie die beiden auf ihn zugelaufen kamen, und spürte, wie Ana seine Hand ergriff.
»Was siehst du gerade?«, fragte Alexis.
»Meine Kindheit.«
»Wie war das?«, fragte Ana.
Nun sah Calder Pinchers Gesicht hinter einem Grabstein hervorlugen. An jenem Tag hatte er den anderen Jungen kennengelernt. Dann erschien Anas Gesicht, gefolgt von Alexis und dem Wald um ihn herum.
»Alles wieder in Ordnung«, sagte er.
Der Regen wurde stärker, Wasser tropfte von den Bäumen und benetzte das Gras, als sie ihre Wanderung wieder aufnahmen. Es war nicht kalt, trotzdem zitterte Calder, als sie auf ein Cottage mit einem eingezäunten Hof zugingen, das einsam am Fuß des Hügels stand.
»Was, wenn sie uns nicht hier haben wollen?«, fragte Alexis seine Schwester.
»Natürlich wollen sie uns«, erwiderte sie. »Johnnie mag uns, und Lalla hält zu ihm.« Sie umfasste immer noch Calders Hand. »Du wirst auch willkommen sein«, sagte sie zu ihm.
»Er muss bei uns bleiben«, sagte Alexis. »Das
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