Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
gediegene sowjetische Bildung, lasen eine Menge nützlicher und unnützer Bücher. Wir lernten, wie man Wodka trinkt und mit Portwein nachspült, lernten die übelsten
Kater auszukurieren und Gespräche über die geistigen Quellen und den Weg der russischen Nation zu führen. Oh ja, wir haben viel gelernt und viel erfahren. Das meiste davon war, wie sich leider erst sehr viel später herausstellte, vollkommen nutzlos.
Und dann klopften die bösen Neunzigerjahre an die kunstlederbezogenen Türen unserer Chruschtschowkas , Kooperativkas und Häuser mit verbesserter Planung . Es war die Zeit der Bewegungen, Deputiertengruppen, Souveränitätsparaden, es erklang der Ruf nach dem »Recht der Nation auf Selbstbestimmung«, und so weiter und so weiter. Die Luft roch, so real wie nie zuvor, nach Freiheit. Unsere Eltern, inzwischen ein wenig älter geworden, waren aufs Neue sehr neidisch auf uns. Jetzt würden wir nicht nur in einer glücklichen, sondern auch noch in einer wirklich freien Gesellschaft leben. Die alten sozialen Statussymbole wie Rosenlew-Kühlschränke, finnische Salami und jugoslawische Möbel verblassten vor dem Recht, offen seine Meinung zu sagen, die Bücher zu lesen, die man lesen wollte, ins Bett zu gehen, mit wem man wollte.
Die Hoffnungen der Eltern wurden Wirklichkeit. Eine bis dato in Russland undenkbare Wortverbindung wurde Realität: Freiheit und Wohlstand.
Und jetzt beginnt eine neue Ära. Die alten Idole vergangener Generationen liegen am Boden und zerbrechen unter unseren Füßen, aber neue haben wir noch nicht gefunden. Wir spucken auf die alten Ideale, verlachen die moralischen Prinzipien und Lebensziele unserer Eltern. Wir zerschlagen die Ikonen, ersetzen die Religion durch die Performance und die Moral durch das Laster. Wir reißen die alten Tempel
ein und schaffen Platz für neue Heiligtümer, an denen wir unseren eigenen Göttern huldigen. Und unsere Eltern sehen mit Tränen in den Augen zu, wie wir Stein für Stein zerstören, was ihnen wert und teuer war. Wie schade, denken sie, wie schade, dass ihr von allen Wegen, die vor euch lagen, den Weg der Zerstörung gewählt habt. Gebe Gott, das ihr etwas Eigenes baut. Neu in der Form und richtig im Inhalt. Wir werden nicht zu streng zu euch sein. Schließlich seid ihr unsere Kinder. Die erste Generation mit einer goldenen Zukunft …
Ich sitze im Schatjor, einem Sommercafé, das sich auf dem Wasser der Tschistie Prudi befindet, und trinke Jameson, bereits die zweiten zweihundert Gramm. Über die Bildschirme der Fernsehgeräte, die unter der Decke angebracht sind, flimmern Clips aus den Achtzigerjahren. Schwarze in weißen Adidas-Turnschuhen, junge Frauen in grellfarbigen Leggings, junge Typen mit dunkel umrandeten Augen und geschminkten Lippen. Künstler, an deren Namen sich nur die Videoarchive erinnern. Immer wieder kreidebleiche Gesichter, groteske, mit buntem Haarlack besprühte Frisuren, Ketten, Ohrringe, riesige Klipps, grelle Neonschrift und protzige, völlig überdimensionierte, meistens rosafarbene Cabrios. Ich erinnere mich an das Gespräch mit Andrej in Petersburg und ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich es jetzt eigentlich genauso klasse finde, der Nostalgie zu frönen und Bruchstücke eines Lebens anzuschauen, das wir nie gelebt haben.
Jula ist schon zwanzig Minuten zu spät, was meine Laune nicht verbessert. Im Gegenteil, ich spüre eine wachsende Gereiztheit. Allmählich bekomme ich Lust, Dampf abzulassen.
Ich beschließe, noch zehn Minuten zu warten, dann zu zahlen und abzuhauen.
Als ich gerade die Hand heben will, um den Kellner zu rufen, betritt sie das Café. Sie setzt sich zu mir an den Tisch, sieht mich vollkommen ruhig an und sagt einfach:
»Hallo.«
»Hallo. Du hast wohl eine Sonnenuhr, was? Die funktioniert schlecht bei Dunkelheit, nehme ich an.«
»Ich war zu Besuch bei einer Freundin. Wartest du schon lange?«
»Seit zehn Uhr, nach unserer Zeitrechnung.«
»Wie war die Reise?«
»Wunderbar. Es gab Frikadellen Kiewer Art, Moskowski-Brandy und einen Heimatfilm. Wie im Café Praha 1988.«
»Ist in Petersburg alles gut gelaufen?«
»Bestens. Und bei dir? Ist bei dir gestern Nacht auch alles gut gelaufen, in Moskau?«
»Was meinst du?«
»Na, die Geburtstagsparty von deiner Freundin und so weiter«, sage ich und versuche, möglichst spöttisch zu klingen.
»Hör mal, kriegst du schon wieder deine Paranoia? Erzähl lieber, was du in Petersburg gemacht hast.«
»Ich habe meine Freizeit möglichst
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