Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
Vom Netzwerk:
lustig.«
    »Immerhin ist damals was passiert«, platzt Andrej dazwischen. »Heute ist alles einfach und klar. Damals war das Leben ein einziger Rausch, jeden Tag Fete und so weiter. So was kommt nicht mehr wieder.«
    »Sag das nicht, das können wir heute vielleicht besser als 1982«, sage ich düster.
    »Och, ich glaube, das war super! Stell dir vor, Andrej, ich würde einen blauen Minirock tragen, eine weiße Bluse mit Komsomolabzeichen und Netzstrümpfe. Das wäre so sexy! Das würde dir bestimmt gefallen, oder?«
    Ich lasse die Rechnung kommen und starre wieder aus dem Fenster. Die beiden plappern weiter über die kommunistische Epoche. Der Kreuzer Aurora kommt mir jetzt längst nicht mehr so archaisch vor wie vorhin.
    Der Kellner meldet mir, dass das Taxi da ist. Während wir mit dem Fahrstuhl nach unten fahren, danke ich meinem Schöpfer, dass ich mich für den Nachmittagszug entschieden habe. Noch einen Tag in Petersburg hätte ich nicht überlebt.
    Als ich endlich im Zug sitze, habe ich nur noch den einen Wunsch – möglichst schnell ins Nirwana zu fallen. Ich lasse mir einen Cognac kommen und glotze in den Fernseher. Eben habe ich mit Jula telefoniert und sie für heute Abend zum Essen eingeladen. Zuerst wollte sie ablehnen, schob zu
meinem Ärger dringende Geschäfte vor, aber dann willigte sie ein, mich um zehn Uhr abends im Schatjor an den Tschistie Prudi zu treffen. Der Cognac trägt mich wohlig in den Schlaf, ich denke an das bevorstehende Treffen. Im Fernsehen läuft ein Heimatfilm. Ich will nicht behaupten, dass mir von solchen Streifen speiübel würde, aber der Humor, die Rührseligkeit, überhaupt die ganze sowjetische Ästhetik, berühren mich nicht im Geringsten. Ich schaue mich um und sehe, dass fast alle meine Nachbarn, die Kopfhörer über die Ohren gestülpt, am Bildschirm kleben und synchron an denselben Stellen lachen.
    Mir fällt auf, dass fast alle diese Leute in meinem Alter sind, und sie sind wie ich Geschäftsleute. »Business-Class«. Sie trinken sowjetischen Weinbrand und genießen die Magie der sowjetischen Filmkunst. Ich glaube, wenn man einigen von diesen Gestalten die Notebooks und Handys wegnähme und sie in andere Anzüge steckte, anschließend das Abteil noch ein wenig schäbiger machte, dann wüsste man nicht mehr, in welchem Jahr wir uns befinden, 2005 oder 1985. Es sieht genauso aus. Hätte ich mir das damals träumen lassen, als ich mir die ersten amerikanischen Action-Videos anschaute? Hätte ich das gedacht, als ich 1989 meine ersten Dollars bei ausländischen Touristen auf dem Arbat eintauschte? Hätte ich mir vorstellen können, dass diese graue Masse, die sich damals durch die Straßen wälzte, eines wunderschönen Tages wiederkehren würde? Hat sich denn überhaupt nichts verändert? Nein, anders: Haben wir wirklich nichts verändert?
    Die armen Jungs und Mädchen, die in den Jahren 1970 bis 1976 geboren wurden. So viel Hoffnung hat man auf sie gesetzt!
Wie niedliche Schmetterlingslarven lagen sie in ihren Kinderwagen, fest gewickelt und verknotet mit den ewig gleichen blauen oder rosa Schleifchen – produziert gemäß dem Fünfjahresplan des Ministeriums für Leichtindustrie -, und ihre Eltern beugten sich gerührt über sie: Die lieben Kinderchen, da schlafen sie und ahnen nicht, was für ein Glück sie haben! All das, was wir nicht bekommen haben, ist für sie doppelt und dreifach da.
    Es waren die satten Siebzigerjahre, wo alles so routiniert und vorhersehbar war. Damals glaubten wir fest daran, dass wir trotz aller Hindernisse in die glorreiche Zukunft eines siegreichen Sozialismus schreiten würden. Sogar solche Menschheitsplagen wie das gefräßige Monster des Militärbudgets, die dumme und amorphe Wirtschaftspolitik, der allgemeine Schlendrian, all das zählte ja nicht angesichts der gigantischen Ressourcen an Erdöl, Kohle und Gas. Sie waren die Rettungsringe, die uns für ein paar hundert Jahre über Wasser halten würden, mit denen wir sogar weit hinaus in den Ozean namens »Wohlstand für alle« hinausschwimmen sollten. Und diese süßen nichtsahnenden Kinder sollten die erste glückliche Generation sein, die Generation, die die Früchte erntet, gewachsen auf einem Kompost aus Entbehrungen, Kriegen, Hunger und sonstigen Grausamkeiten, die das zwanzigste Jahrhundert zu bieten hatte.
    Die Kinder der Siebzigerjahre: die erste Generation, deren Zukunft wirklich gut vorausgeplant war.
    Es vergingen zwei, drei Jahrzehnte. Wir wuchsen auf, genossen eine

Weitere Kostenlose Bücher