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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Minajew
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Stadt, den »Riverside Towers«. Dieser Name sollte vermutlich, nach der Idee ihrer Erbauer, bei der arbeitenden Bevölkerung die Assoziation eines modernen Barockschlosses an den Ufern eines gesegneten Flusses hervorrufen. Bei mir persönlich entstanden allerdings vom ersten Tag an nur Assoziationen mit gruseligen gotischen Burgen oder dem Hort des Bösen aus Fantasy-Romanen. An
dunklen Wintermorgen leuchten die Ziegeltürme mit den wachsbleichen Augenhöhlen der Fenster wie eine zum Leben erwachte Illustration aus den Büchern Tolkiens.
    Erst recht, wenn man morgens um neun auf der Anhöhe vor dem Eingang zu dem Gelände steht und sieht, wie Ströme von Menschen und Autos auf die Türme zuwälzen. Die Leute bewegen sich mit schnellen Schritten, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Etliche von ihnen brabbeln dabei ununterbrochen in ihre Mobiltelefone, als wollten sie auf diese Weise ihre verschlafenen Gehirne mit der morgendlichen Hektik der Stadt synchronisieren. Bisweilen malt meine Fantasie diesen immer ein wenig gebeugten Gestalten einen dicken Packen auf den Rücken und verwandelt sie so in Leibeigene, die Tag für Tag ihren Herren Abgaben zu bringen haben, sei es in Gestalt ihrer eigenen Gesundheit, ihrer Gefühle oder ihrer Leidenschaften. Das Schlimmste und zugleich Dümmste daran ist, dass sie es aus freiem Willen tun, als bedauerten sie, dass die Leibeigenschaft offiziell abgeschafft wurde.
    So gegen zehn Uhr rollen dann allmählich die repräsentativen Karossen aus der Produktion westdeutscher Firmen auf den Parkplatz. Darin sitzen die BOSSE. Sie steigen aus und schreiten gelassenen Schrittes zum Eingang, wobei sie einzelne niedere Angestellte, die sich verspätet haben oder draußen auf der Straße noch schnell eine Zigarette rauchen, mit gezielten Blitzen aus ihren Augen zu Asche verbrennen. Ein neuer Tag in Riverside Mordor hat begonnen.
    Apropos, das Rauchen ist in den Büros, in den Fluren und Treppenhäusern sowie in der Nähe der Eingänge natürlich
strengstens verboten. Denn erstens arbeiten rauchende Angestellte weniger (ob sich dabei auch ihre Arbeitsproduktivität verringert, ist bislang ungeklärt), zweitens ist das Rauchen Ursache zahlreicher Krankheiten (und infolgedessen zahlreicher bezahlter Fehltage) wie chronische Bronchitis, Lungenkrebs und so weiter und so fort. Außerdem kommt es vor, dass so ein Raucher unvermittelt stirbt und bei seiner Beerdigung dann mit hässlich grüner Gesichtsfarbe im Sarg liegt – im Unterschied zu seinem plötzlich an den Folgen schwerster Überarbeitung verstorbenen Nichtraucherkollegen, dessen Wangen als Leiche frisch und rosig sind -, womit er gegen Paragraf 234 der Betriebsordnung verstößt, der »das Erscheinungsbild der Mitarbeiter bei betrieblichen Veranstaltungen oder Ereignissen oder sonstigen öffentlichen Anlässen, bei denen sie unmittelbar mit dem Unternehmen assoziiert werden«, regelt.
    Bei uns Topmanagern hingegen übt man diesbezüglich Nachsicht. Sie dürfen rauchen so viel sie wollen, solange sie es in ihren eigenen Büroräumen tun. Damit gibt das Unternehmen wohl zu verstehen, dass es ihm ziemlich schnuppe ist, woran seine Manager verrecken und welche Gesichtsfarbe sie dabei haben. So ist das Leben. Die meiste Zeit rackerst du dich ab, um deinen Platz an der Sonne zu kriegen, und wenn du dein Ziel erreicht hast, ist die Luft raus, noch ehe du die ersten Strahlen genießen kannst.
    Wie eine gut gedrillte Bulldoge habe ich um neun Uhr morgens meine Sekretärin angerufen, damit sie überall verbreiten kann, dass ich noch einen unheimlich wichtigen Außentermin habe. Dann fahre ich nach Hause, ziehe mich um, gönne meinen Augen ein paar Tropfen »Visine« und
mache mich auf den Weg zur Arbeit. Zehn vor elf komme ich bei den Towers an.
    Ich fahre in den siebten Stock, trete aus dem Fahrstuhl, öffne die Tür zu meinem Büro – und schon verströme ich ein Fluidum ewiger Werte: Pünktlichkeit, Einsatzbereitschaft, Verantwortungsgefühl des leitenden Angestellten, bedingungslose Aufopferungsbereitschaft für die Interessen des Konzerns.
    Am Eingang gibt es einen Empfangstresen mit sage und schreibe drei Sekretärinnen. Ich sage »Hallo«, alle drei heben synchron die Köpfchen von ihrer Taschenbuchlektüre und antworten im Chor »Guten Morgen«. Ihre Gesichter sind von den Computerbildschirmen fast vollständig verdeckt, wer immer dort hinter dem Empfangstresen sitzt, ist nur durch die Ritzen zwischen den Bildschirmen hindurch erkennbar. Auf

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