Seelenkuss / Roman
hinter Ashe stand. Sie sprachen nicht mehr. Ihrer beider Aufmerksamkeit galt der Nacht um sie herum. Instinktiv teilten sie sich den Bereich auf: Reynard beobachtete den Teil rechts und hinter ihnen, während Ashe sich nach links und vorn umschaute. Derweil bewegten sie sich exakt spiegelverkehrt und schwangen ihre Waffen in einer tödlichen Symmetrie. Unter anderen Umständen hätten sie gewiss gut zusammen tanzen können.
Bei diesem Gedanken schmunzelte Ashe – ein tödliches, kaltes Lächeln, passend zur Jagd, und dennoch ein gutes. Selbiges Lächeln hatte es eben auf ihre Lippen geschafft, als sie den schmalen Durchgang verließen und Erleichterung alle anderen Emotionen beiseitestieß. Bis die mondbeschienene Aussicht unter ihnen Ashe mit völlig neuer Sorge erfüllte.
»Dort ist er«, hauchte Reynard, dessen Atem heiß über ihre Ohrmuschel wehte.
Die Bestie hockte oben auf dem Absatz der Steintreppe, die zu dem Senkgarten führte. Was der Mond nicht zeigte, offenbarten die Sicherheitslichter entlang der Stufen. Auf allen vieren hockte das Ding da, sah moppelig rund und mindestens so groß aus, dass es Ashe bis zum Brustkorb reichte. Es hatte einen hübschen hellbraun-weißen Pelz.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, murmelte sie.
Als es mit seiner Nase wackelte, wurde Ashe komisch. Ob das an den Blutklumpen lag, die um seine Schnauze mit den langen Barthaaren verteilt waren? An den glitzernden schwarzen Augen?
»Das ist ein Höllenkaninchen«, flüsterte sie entgeistert. »Ein Kaninchen hat den Verkäufer gefressen.«
»Fürwahr«, bestätigte Reynard.
Monster sollten eigentlich wie Monster aussehen, wenn sie nicht gerade vorgaben, Menschen zu sein. Das hier war schlicht verwirrend.
»Sie hätten mich gern warnen dürfen. Diese Schlappohren sind furchtbar niedlich.« Ashe neigte ihren Kopf, als würde sie aus diesem Winkel besser sehen. Sie hoffte inständig, das Ding hatte keinen Wattebauschschwanz. Der würde es, wenn es hart auf hart ging, nur schwieriger machen, dem Häschen den Kopf wegzublasen.
»Unterschätzen Sie ihn nicht! Wir haben versucht, ihm eine Karotte anzubieten«, flüsterte Reynard staubtrocken. »Aber er zieht anscheinend weniger Knackiges vor.«
Mit seiner Bemerkung zerstörte er Ashes glückliche Ostererinnerungen. Früher hatte sie die marshmallowgefüllten Häschen in rosa Folie geliebt. Nie wieder! »Nächstes Mal beiße ich auf jeden Fall zuerst den Kopf ab.«
Reynard sah sie verwundert an. »Das täte ich an Ihrer Stelle nicht. Sein Tritt kann tödlich sein.«
Ashe schloss die Augen, öffnete sie wieder und ermahnte sich, klar zu denken. »Okay, wir sind also das Kaninchenkommando. Wie wollen Sie es anstellen?«
Plötzlich schreckte das Kaninchen auf und flitzte die Treppe hinab. Der Teil mit dem Anschleichen war für den heutigen Abend eindeutig vorbei.
Reynard rannte ihm nach, hechtete über die Absperrung und die Stufen hinab. Eine heikle Abkürzung, die ihm jedoch mehrere Meter Vorsprung gegenüber Ashe verschaffte.
»Schneiden Sie ihm vorn beim Wasser den Weg ab!«, brüllte er ihr zu.
Ashe stolperte los, sprang die letzten paar Stufen hinunter und sprintete über den Rasen rechts vom Weg. Der Gartengrundriss hatte von oben die Form eines Donuts. In der Mitte bildete ein Felskreis einen Aussichtspunkt. Hinter dem Donut glitzerte ein Wassergarten. Ashe konnte die Wasserfälle wie entferntes Gemurmel plätschern hören.
Ihre Stiefel donnerten auf dem Gras und schlitterten leicht, als sie über ein Blumenbeet setzte. Reynard war nach links gelaufen und kam vom anderen Ende. Hier gab es keine toten Winkel, dafür aber ein bisschen zu viele Sträucher für Ashes Geschmack. Während sie am Aussichtspunkt vorbei- und auf den Teich zurannte, färbten die bunten Lichter in den Beeten ihre Beine erst grün, dann blau.
Sie spürte das Höllenkaninchen, noch ehe sie begriff, dass sie es erreicht hatte. Ein Energieschwall, der ihr über die Haut lief, verriet ihr, dass sie ihm viel zu nahe war.
Eine dunkle Feenkreatur.
Zu spät und überdies im ungünstigsten Moment fiel Ashe alles wieder ein, was sie über Phouka gelesen hatte.
In diesem Augenblick nämlich reckte sich das Ding aus einem Hortensienstrauch gleich einem Beatrix-Potter-Albtraum, die Vorderpfoten an seine pelzige Brust geklemmt, die Nase zuckend. Ein Fleischfetzen klebte an seinem einen Schnurrhaar und zog es nach unten.
Ashe stolperte drei Schritte rückwärts, ihre Waffe auf Vlad Watteschwanz gerichtet.
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