Seelenkuss / Roman
Mitternacht. Eden war im Auto eingeschlafen. Ashe hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihre Tochter so lange aufbleiben ließ. Noch ein Grund mehr, sich von allen Jagdaufträgen fernzuhalten – vor allem von solchen, die über die Skala der Absonderlichkeiten hinausschossen.
Als sie endlich selbst im Bett lag, rechnete sie damit, wachzuliegen und sich wegen Kaninchen und Heckenschützen zu sorgen, aber ihr Körper war so dankbar, weich gebettet zu sein, dass Ashes Erschöpfung binnen Minuten siegte.
Sie träumte, dass sie in ihrem eigenen Bett schlief, von dem Zimmer, der dunklen Tagesdecke, der ganzen Wohnung, wie sie wirklich war. Was das Gefühl, jemand anders würde unter die Decken schlüpfen, umso verstörender machte. Zuerst dachte ein irrationaler Teil von ihr, es wäre Roberto, der spät heimkam, wie er es früher oft getan hatte.
Aber ihr Mann war seit Jahren tot. Bei diesem Gedanken krampfte ihr Bauch sich vor Wut und Trauer zusammen, als wäre der Verlust frisch. Nach beinahe fünf Jahren öffnete die Wunde sich von Zeit zu Zeit wieder und blutete von neuem.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ihr traumbenebelter Verstand sich von dem Gedanken abwandte und fragte, wer neben ihr lag.
Sie fühlte eine kühle Hand, die über ihren Arm strich und ein elektrisches Kribbeln verursachte.
Vampir! O Göttin!
Sie musste ihren Kopf drehen, das Gesicht sehen, das zu der Hand gehörte, aber Furcht machte ihren Nacken steif. Die kalte Hand lähmte sie förmlich, während sie über ihre Hüften strich und ihren Bauch streichelte. Ashe zwang sich aufzuspringen, ihrem Angreifer den Ellbogen gegen das Kinn zu rammen und wegzurennen.
Angst um ihre Tochter pulsierte mit jedem Herzschlag durch ihren Leib. Wenn ihr dies hier geschah, was passierte dann Eden?
»Ich wusste nicht, dass wir beide dich beobachten. Du solltest vorsichtiger sein.« Das Flüstern war so leise, dass sie es kaum hörte.
Ashe fühlte Lippen, die ihr Schulterblatt streiften, bevor sie höher und höher zu dem empfindlichen Haaransatz in ihrem Nacken wanderten. Dann den heißen intimen Stich von Reißzähnen. Sie schoss aus dem Bett, dass ihre Decken flogen, packte die Waffe auf ihrem Nachttisch und drehte sich um.
Während der Schweißfilm auf ihrer Haut erkaltete, sah sie, dass das bedrohliche Kissen leer war.
Göttin, wie sie Angstträume hasste!
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5
Donnerstag, 2. April, 14.00 Uhr In Fairview
D as Messingschild neben der halbgläsernen Tür verriet Ashe, dass sie hier richtig war: BANNERMAN , WISHART UND YEE , ANWÄLTE UND NOTARE .
Der elfte Stock des schlanken Benoit-Towers bot eindeutig nicht das Ambiente, in dem sie sich wohl fühlte. Müde, wie sie nach ihrem Albtraum war – nach dem sie nicht wieder hatte einschlafen können –, hielt ihre Sorge sie dennoch hellwach. Ashe zögerte. Ohne Pflock wirkte ihre Hand nackt. Für einen Moment wollte sie weglaufen, nur schaffte ihr das die Monster nicht vom Hals. Es erregte eher ihre Jagdlust.
Was nicht gut war, denn sie trug hohe Absätze. Sie hatte vergessen, wie schrecklich sie diese Stelzen fand.
Sie umfasste den Türknauf und biss sich auf die Lippe, wobei sie die ungewohnte Süße des Lipgloss schmeckte. Sobald sie ihr Pokerface aufgesetzt hatte, trat sie in das schallgedämpfte Büro und schloss die Tür hinter sich. Die Beleuchtung erinnerte sie an teure Friseursalons – beruhigend und fast metallisch in all dem großstädtischen Glitzer.
Ashe war froh, dass sie ihr wollweißes Kostüm trug. Darin sah sie wenigstens aus, als gehörte sie hierher. Sie hatte sogar an die kleinen Perlenohrstecker gedacht, die sie von ihrem Mann zur Hochzeit bekommen hatte. Nun machte sie die Schultern gerade und schritt zum Empfangstresen, wobei sie sich anstrengte, nicht zu stolpern.
Hinter dem Mahagonitresen saß eine ältere Frau mit den wachsamen Augen eines Hofhundes.
»Guten Tag. Ich habe einen Termin bei Mr. Bannerman«, erklärte Ashe. »Ashe Carver.«
Die Empfangsdame tippte auf ihre Computermaus, sah auf ihren Monitor und zog die Brauen zusammen. »Hier steht, dass der Termin abgesagt wurde.«
Schlagartig regte sich neue Angst in Ashe. »Das muss ein Missverständnis sein.« Sie hatte ein Vermögen bezahlt, um diesen Halsabschneider zu bekommen, der ein berüchtigter Verteidiger in übernatürlichen Angelegenheiten wie auch in familiären Streitigkeiten war. Nun sollte er sie verdammt noch mal auch empfangen!
»Ja, muss es wohl. Für Ihren Termin ist auch niemand
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