Seelenkuss / Roman
ungleich besser aus. Das klang verantwortungsvoll, gebildet und harmlos. Tja, die Familienrichter hatten eben noch nie eine der Mitarbeiterpartys erlebt.
Ashe gähnte. Ihr Körper schätzte es gar nicht, dass sie gegen drei Uhr morgens eingeschlafen und um sechs wieder aufgestanden war, um Eden für die Schule bereit zu machen und sie hinzufahren. Natürlich kannte Ashe Träume von Robertos Tod, obgleich sie heute nicht mehr so oft vorkamen wie früher. In letzter Zeit schienen die Albträume mit Stress einherzugehen. Oder mit Begegnungen mit einem anderen attraktiven Mann – wie Reynard. Plagten sie Schuldgefühle?
Falls ja, waren sie gänzlich unangebracht. Roberto würde wollen, dass sie nach vorn sah. Er hatte viel mehr für den Moment gelebt als Ashe, weshalb er wohl auch nie verstand, wieso Leute Alben voller Fotos aufbewahrten. Bis Eden geboren wurde. Er hatte immer gesagt, sein Herz wäre ein riesiges Skizzenbuch mit unendlich vielen Seiten.
Ja, es war schwer, jemanden loszulassen, der einen bloß anzusehen brauchte, und man wusste, dass dieses Bild für immer in seinem Herzen bliebe. Furchtbar schwer.
Und trotzdem war Ashe einsam. Ihre Einsamkeit war buchstäblich in sie hineingekrochen, seit sie wieder nach Fairview gezogen war. Vielleicht hatte die Zeit ihre Trauer schließlich tief genug vergraben, dass sie wieder anderes empfinden konnte. Oder es hatte damit zu tun, dass Ashe sich viel bei Holly und deren unsterblichem Superhengst von Vampirliebhaber aufhielt. Die beiden waren geradezu übelkeiterregend zufrieden miteinander. Und sie zu erleben, hatte Sehnsüchte in Ashe geweckt, von denen sie geglaubt hatte, sie längst hinter sich zu haben: angefangen mit dem heißen Sex bis hin zu jemandem, der abends auf dem Heimweg rasch die vergessene Milch kauft.
Was die Vampirträume betraf, die hatte sie gründlich satt. Offenbar hatte der Kampf mit dem Angreifer sie schlimmer getroffen, als sie dachte.
Ashe blieb stehen und nippte an ihrem brühend heißen Kaffee. Die Flüssigkeit rann brennend ihre Kehle hinab, und sie musste heftig blinzeln. Das Licht im Einkaufszentrum war schummrig, sperrte einen Großteil des Frühlingsmorgens aus. Am anderen Ende des Food-Courts schob der Hausmeister eine lärmende Bohnermaschine vor sich her. Es roch nach Pommes und Industriereiniger.
Schaudernd ging Ashe weiter. Nach nur wenigen Schritten sah sie, dass »die Schlacht der Witzfiguren« (Leihbücherei gegen Buchladen) auch die letzte Nacht unbeschadet überstanden hatte … gewissermaßen.
Ashe schüttelte den Kopf.
Lahm, Jungs, echt lahm!
Vor der Bücherei stand eine ganze Traube von lebensgroßen Pappfiguren, die sich den Werbekampagnen diverser Verlage verdankten. Legolas, ein Typ mit Sonnenbrille, ein übermuskulöser Romantikheld ohne Hemd und ein Comic-Pirat. Dem Piraten hing ein Osterkorb am Papparm, und ein Meer von kleinen Schokoladeneiern bedeckte den Fußboden. Die hatten den Hausmeister bestochen!
Jemand musste schon über die Eier getrampelt sein und sie dabei zerdrückt haben. Die klebrige Füllung sorgte für einen Schmierfilm auf dem Boden, der nach Vogelschiss aussah.
Okay, zu dem Ekeleffekt muss man ihnen wohl gratulieren.
Die Schwachköpfe vom Buchladen hatten bis heute nicht die Sache mit dem grünlichen Kaffee vom Saint Patrick’s Day getoppt, und Ashes Team lag somit nach wie vor vorn. Krieg war Krieg, und die Büchereitruppe hatte immerhin eine nicht zu verachtende Fachbuchabteilung auf ihrer Seite.
Ashe drängte sich zwischen den Pappsupermännern hindurch, auf Zehenspitzen, um den Eiern auszuweichen, und angelte in ihrer Tasche nach den Schlüsseln. Anscheinend war sie heute die Erste.
»Guten Morgen.«
Göttin!
Ashe fuhr zusammen und schaffte es, trotz des Plastikdeckels etwas von ihrem Kaffee zu verschütten, als sie sich blitzschnell umdrehte, sich halb hinhockte und ihre Schlüssel wie eine Waffe ausstreckte.
Es war Reynard, der so still dagestanden hatte, dass Ashe ihn in ihrer morgendlichen Nebelsicht für eine Pappfigur hielt.
Mist!
Ihr Herz wummerte, teils vor Schreck, teils, weil er es war. Was immer ihr Verstand zu sagen haben mochte, wurde von ihrer vernachlässigten Libido übertönt, die sich einzig damit aufhielt, dass er verteufelt gut aussah.
»Ich bin wahrlich nicht diejenige, die Sie hobbymäßig erschrecken sollten«, sagte sie mürrisch. Wenigstens war sie jetzt hellwach.
»Scheint so.« Er verneigte sich leicht, die Eleganz in Person, allerdings mit einem
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