Seelenkuss / Roman
anbieten«, sagte er vorsichtig und blickte sie mit seinen sturmgrauen Augen an.
Auf einmal fiel Ashe das Atmen schwer.
»Sie halfen mir schon einmal«, fügte er ruhig hinzu. »Als ich verwundet war.«
In diesen Augen hätte sie ertrinken können!
»Ja.« Sie senkte den Kopf. Daran, dass Reynard sterben könnte, weil irgendein Irrer seine Urne stahl, wollte sie nicht einmal denken. Die Urne eines Wächters hatte in seiner Burg zu bleiben. Oder wie auch immer. Ein fieses Gefühl – teils Wut, teils Hilflosigkeit – machte sie vorübergehend benommen.
»Nachdem ich von dem Diebstahl erfahren hatte, überprüfte ich den Tresorraum, in dem die Wächterseelen aufbewahrt werden. Ich sah mir jedes einzelne Gefäß an. Meines ist nicht dort. Mac befragt derzeit die Burginsassen.«
Ashe schluckte. »Also müssen Sie jetzt meine ganze Welt nach dem Dieb absuchen?«
Reynard breitete seine Hände aus. »Ich kenne diese Welt nicht mehr. Zwar bin ich nicht hilflos, aber ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Daher habe ich gehofft, Sie könnten mich führen.«
»Warum nicht Mac?«
»Abgesehen davon, dass seine übernatürliche Größe und seine Ganzkörpertätowierung Misstrauen erregen könnten, hat er eine Kerkerdimension zu leiten. Seine Kontaktleute bei der menschlichen Polizei fragen ihre Kontakte, doch eigentlich handelt es sich um ein übernatürliches Verbrechen. Folglich wäre der Rat von jemandem, der mit der nichtmenschlichen Welt vertraut ist, für mich am wertvollsten.«
»Außerdem«, ergänzte Ashe, »klingt es, als wäre jemand drinnen gewesen. Mac muss herausfinden, wer in der Burg hinter allem steckt.«
»Und was sie mit dem Diebstahl gewinnen wollen.« Seine Augen wurden hart vor Zorn und nahmen einen dunkleren Grauton an.
In diesem Moment steckte Gina Chen, die andere Hilfe in Ashes Schicht, ihren Kopf zur Tür herein. »Hi, Ashe, hier steckst du! Was soll das mit den Pappfiguren?«
Die junge Frau mit dem langen schimmernd schwarzen Haar und den großen Mandelaugen entdeckte Reynard. »Oh, hi!« Sie lächelte wie ein Kleinkind beim Anblick einer Eiswaffel. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.«
Beinahe hätte Ashe geknurrt. Plötzlich war Gina viel zu jung und exotisch hübsch. Reynard war fremd in dieser Welt und entsprechend hilflos angesichts der charmanten Kollegin.
»Ich komme gleich«, erklärte Ashe. Wenigstens verpasste der Anflug von Feindseligkeit allen anderen Gefühlen einen Dämpfer.
»Irres Outfit«, beharrte Gina.
»Er ist Schauspieler«, erwiderte Ashe schnippisch. »Frühe Probe.«
»Ein Schauspieler! Cool!«
Reynard beobachtete die beiden Frauen unsicher, blickte von einer zur anderen, als wären sie in einem Tennis-Match – oder als wäre er ein Kater und hätte die Wahl zwischen zwei Vögeln. Dabei wirkte sein Gesichtsausdruck geradezu enervierend unschuldig.
»Ich bin gleich draußen und helfe dir mit den Rückgaben«, sagte Ashe streng.
Endlich kapierte Gina den Wink und kehrte seufzend an den Tresen zurück.
Ashe wandte sich wieder Reynard zu. »Ich muss arbeiten, aber ich denke über das nach, was Sie mir erzählt haben.«
Bilder huschten durch ihren Kopf. Eden. Der Vampir im Botanischen Garten, der zu Staub zerfiel. Die Bücherstapel, die auf sie warteten. Eden. Bannermans Schleimwasserfall. Sie selbst neben Reynard in der Burg kniend und dabei zusehend, wie er blutete. Eden. Es war eindeutig zu viel, was auf sie einstürmte.
Reynard runzelte die Stirn. Er schien ihre Anspannung zu fühlen, nahm sanft ihre Hand und hielt sie einfach. Seine Berührung zog sie magnetisch an. »Bitte nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie benötigen.«
»Im Moment habe ich reichlich zu tun.« Sie sollte Reynard wegschicken, denn sie konnte wahrlich darauf verzichten, zusätzlich zu ihren eigenen Problemen auch noch mit seinen belastet zu werden. Wer zu viele Bälle jonglierte, ließ schnell mal einen fallen, und das konnte Ashe sich nicht leisten. Nicht solange Heckenschützen und Anwälte hinter ihr her waren.
Allein neben Reynard zu stehen, machte sie kurzatmig, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Hinzu kam ein Wirrwarr aus Angst, Verlangen und mädchenhafter Unsicherheit.
Reynard ließ sie wieder los, wobei seine Fingerspitzen über ihre Handinnenfläche strichen. »Ich bin dankbar für jeden Rat, den Sie mir geben können.«
Ashes Mund wurde trocken. Nun, wenigstens sabberte sie nicht!
Such dir ein Problem aus, Ashe, irgendeines, das du lösen kannst!
»Sie
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