Seelenkuss / Roman
oder sollten sie – angegriffen werden. Macht der Gewohnheit.
Ohne seine Waffen fühlte Reynard sich nackt, aber Mac hatte darauf bestanden, dass er sie zurückließ, außer, er war mit jemandem unterwegs, der die örtlichen Gepflogenheiten kannte. Ein unnötiger Hinweis. Einst hatte Reynard sich gern duelliert – um ein Kartenspiel, um eine Frau, eigentlich wegen allem Möglichen. Das war lange her. Er hatte längst genug vom Töten. Ihn interessierte viel mehr, was die Welt der Lebenden zu bieten hatte.
Fasziniert von allem, was er sah, durchquerte er einen lauten Bereich voller Tische und Stühle, Klatsch austauschender Mütter und jammernder Kinder. Eine nicht geringe Anzahl der Mütter drehte sich nach ihm um und musterte ihn von oben bis unten, als wäre er ein Pferd, das sie zu kaufen überlegten. Aus purer Kühnheit erwiderte er ihre abschätzenden Blicke und schob die Sonnenbrille ein wenig höher. Was die Damen nicht im Geringsten zu stören schien.
Die dämpfende Magie ließ spürbar nach, und Reynards Sinne lebten auf. Die Atmosphäre dieser Welt machte genauso süchtig wie Schlafmohn. Reynard wollte so vieles auf einmal: laufen um des puren Genusses ermüdeter Muskeln willen, unter dem raschelnden Laub einer Espe stehen. Überall konnte er eine seltsame Musik hören, die aus den Decken zu ertönen schien. Obgleich ein Teil von ihm wusste, dass es sich um die einfachsten Melodien handelte, bescherte ihm deren Schwung eine süße Melancholie, gleich einer unstillbaren Sehnsucht. Er wollte leben.
Was du nicht verdienst. Du hast Frauen verschlungen wie andere eine Schale Früchte. Sobald du dich an einem weichen Körper gütlich getan hattest, bist du zum nächsten gewandert. Und hierbei handelte es sich lediglich um eine deiner Verfehlungen. Die Burg lehrte dich Pflichtgefühl, Entsagung und Ehrbarkeit. Möchtest du dem nun den Rücken kehren? Würdest du den Tausch rückgängig machen wollen?
Er könnte. Er hatte die Wahl, einfach zu gehen. Sein Leben wäre kurz, währte vielleicht nur wenige Tage, doch es wäre seines – bis die Trennung von seiner Urne ihn umbrachte. War es das, was er begehrte? War er noch derselbe Mann, der einen Eid bräche, um seiner Vergnügungssucht zu frönen?
Nein, jener wilde junge Offizier war während seiner ersten Monate in der Burg zu Asche verbrannt. Danach war der Horror alltäglich geworden. Im Namen der Pflicht hatte Reynard Schreckliches getan. Er musste mit Schurken wie Miru-kai verhandeln, zum Wohle der schwächeren Insassen, die von den Warlords versklavt wurden. Er musste Banden von Gefangenen den Krieg erklären, manchmal sogar seinen eigenen Männern. Aber es waren die kleinen Dinge, welche die tiefsten Wunden rissen. Constance, Macs Frau, hatte einen Sohn angenommen, und Reynard war gezwungen gewesen, den Jungen gefangen zu nehmen. Es war nötig, um die Ordnung in der Burg aufrechtzuerhalten, was die Qual der Trennung für Mutter oder Sohn nicht weniger schmerzlich machte.
Obwohl der Captain der Wachen durch nichts zeigen durfte, was er fühlte, hatte diese Geschichte fast gebrochen, was von Reynards Herzen noch übrig war, und er würde sie ewig bereuen.
So viele, viele Male wäre es leichter gewesen, der Verzweiflung nachzugeben. Eherne Disziplin bildete den besten Schutzschild, den er gegen den vollkommenen moralischen Zusammenbruch aufbieten konnte. Ehre. Pflicht. Würde. Tod. Sein Vater wäre erfreut gewesen, welche Veränderungen ein paar Jahrhunderte im Dienst bei seinem ungestümen Sohn hervorgerufen hatten.
Reynard passierte einen Laden voller Fernsehgeräte und anderer elektronischer Apparaturen – ein Land unbegreiflicher Wunder. Dahinter lag ein Tabakladen, dessen Auslagen Reynard entnahm, dass Schnupftabak in den letzten Jahrhunderten außer Mode gekommen war. Dann folgte ein Buchladen – endlich etwas, dessen Waren er verstand –, und für eine Weile blieb er vor dem Schaufenster des benachbarten Spielwarenhändlers stehen.
Winzige in leuchtend bunten Farben bemalte Ritter auf Pferden gruppierten sich um eine papierne Burg. Von den Zinnen grinste ein kleiner grüner Drache hinab.
Anscheinend haben die noch nie einen richtigen Drachen gesehen.
»Suchen Sie etwas für Ihren Sohn?«, fragte die Verkäuferin, nachdem er offenbar auffallend lange vor dem Laden gestanden hatte.
»Nein«, antwortete Reynard und staunte, dass er für diese junge Dame ein Mann wie jeder andere war. Jemand mit einer gewöhnlichen Geschichte, mit
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