Seelenkuss / Roman
eigenen Kindern – nichts Finsteres oder Bizarres.
Er überraschte sich selbst, indem er lächelte. »Eigentlich schaue ich mir alles nur für mich an.«
Die junge Frau lachte, und es war wundervoll. Ihr Lachen war schlicht, fröhlich, menschlich. Plötzlich überkam Reynard Freude, und er empfand die kribbelnde Verlockung, einen Moment lang albern zu sein. Er lachte mit der Frau, bis er fühlte, wie seine Wangen sich vor Scham röteten.
Verunsichert dankte er der Verkäuferin und ging weiter. Er besaß kein Geld, sonst hätte er möglicherweise etwas gekauft, um die Scharade zu verlängern. Es war leicht, einen anderen zu spielen, den Grund von sich zu schieben, aus dem er eigentlich hier war. Solch eine Ablenkung konnte tödlich sein.
Reynards Schritte wurden langsamer, als er sich den Türen näherte, die auf die Straße führten.
Gütiger Gott!
Die meisten der Kreaturen, die er bewachte, waren Nachtwesen. Wenn sie entkamen, flohen sie in die Dunkelheit. Und Reynard jagte sie in der Dunkelheit. Was er nun draußen sah, hatte er seit vielen, sehr vielen Jahren nicht mehr gesehen.
Sonnenschein.
Er fiel durch eine kleine Lücke in den spätnachmittäglichen Wolken, über eine Straße und ein paar spindeldürre Bäume, an deren Ästen hellgrünes Frühjahrslaub leuchtete. Menschen zogen beim Überqueren der Straße lange Schatten hinter sich her. Reynard blinzelte. Er sehnte sich danach, die Sonne auf seiner Haut zu spüren.
Als er bei den Türen war, stieß er eine auf und schritt hinaus. Zunächst blieb er im Schatten des überstehenden Daches. Etwa zwei Meter entfernt lag das Trottoir in hellem Sonnenschein.
Wenn ich weitergehe, komme ich nie wieder zurück.
Menschen liefen an ihm vorbei, hinein und heraus aus dem Einkaufszentrum. Sie hätten ebenso gut Geister sein können, denn Reynard starrte nur gebannt auf die rasenden Wagen, betäubt vom Lärm. Wie das London seiner Tage brodelte auch dieser Ort vom sich stetig verändernden Leben Tausender Menschen. Ein Duft von Erregung lag in der Luft, der Reynard neckte, ihn aufforderte weiterzugehen, den wärmenden Balsam der Sonne zu erleben und sich in den tosenden Strudel zu stürzen.
Ist meine Existenz so unbedeutend, dass ich sie einfach wegwerfen kann?
Mag sein.
Sein ganzer Leib schmerzte vor Entbehrung, und sein pochendes Herz symbolisierte eine rhythmische Aufzählung all dessen, was er geopfert hatte: Familie, Freunde, Liebe, Karriere, alles, was zu einem freien Menschsein gehörte. Seine Hände zitterten, als ihn unvermittelt ein Fieber befiel, zusammen mit dem Drang, sich zu übergeben. Aber seit zweieinhalb Jahrhunderten hatte er nichts mehr im Magen, was er hätte erbrechen können. Die Übelkeit verging, ohne etwas zu finden, was sie erleichterte. Reynard schloss die Augen, auf dass die Strahlen des grausam verführerischen Lichts ausgesperrt waren.
Ich werde nicht dem Wahn verfallen.
Für ihn war die Sonne stets unerreichbar gewesen. Er entsann sich der hohen Bücherregale in der Familienbibliothek, wo es nach Leder und Portwein gerochen hatte. Gerade zehn Jahre alt war er gewesen, als er das große schwarze Buch seines Vaters mit einer eingestanzten sechsstrahligen Sonne auf dem Einband entdeckte. Sie war mit Blattgold belegt, und Reynard hatte den Buchdeckel gestreichelt, das helle Muster mit seinem Finger nachgemalt.
»Rühr das nicht an!«, fuhr sein Vater ihn an und schlug Reynards Hand weg.
»Was bedeutet die Sonne?«
»Sie bedeutet, dass wir geboren sind, um zu dienen. Dieses Buch ist kein Spielzeug für kleine Jungen. Es gehört dem Orden.«
Sein Vater hatte die Sonne auf ein hohes Regal gestellt und Reynard sie nie wiedergesehen. Das nächste Mal erblickte er das Symbol über der Tür zum Tresorraum, in dem die Urnen lagerten. Bis dahin hatte er gewusst, was der Orden tat.
Er nahm Jungen, die zu Männern heranwuchsen, die Sonne fort.
Schließlich kehrte Reynard dem verblassenden Frühlingstag den Rücken und ging in das Einkaufszentrum zurück.
Pflicht, Würde und Tod.
Es gab Arbeit zu erledigen. Und es wurde höchste Zeit, dass er zu Ashe ging und nachsah, ob sie eine Idee hatte, wo er seine Suche beginnen könnte.
Er bog um eine Ecke, denn so klar, wie ein Kompass wusste, wo Norden war, wusste er, wo Ashe sich befand. Seit dem Tag, als sie ihm das Blut aus dem Gesicht gewischt und ihn aufgefordert hatte, am Leben zu bleiben, wusste er jederzeit, wo er sie suchen musste, selbst aus dem Innern der Burgmauern. Um eine
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