Seelenkuss / Roman
Haar, Ledermantel, hohe Wangenknochen und grüblerischer Mund. Nicht schlecht, doch Ashe war sofort in Alarmbereitschaft. Nur weil es Vampire gab, die sich bemühten, mit dem Rest der Welt auszukommen, rollte Ashe nicht gleich jedem Blutsauger den roten Teppich aus, der hereingeflattert kam. Dennoch handelte es sich um einen Kunden.
»Gibt es ein Problem?« Ashe legte das Buch in die Plastikbox und eilte zum Tresen.
Gina hatte komplett auf den Schnippischmodus umgestellt, wie Ashe an ihren Kiefermuskeln erkannte. »Er will einen Leihausweis.«
Kein Wunder! Die meisten Vampire waren Leseratten, weil sie den ganzen Tag drinnen festsaßen. Ashe wandte sich an den Kerl. »Haben Sie einen Ausweis?«
Gina wandte sich Mrs. Fanhope zu, einer älteren Büchereikundin mit einem Faible für blutige Krimis. Wortlos nahm der Vampir seine Brieftasche hervor, zückte einen Führerschein und reichte ihn Ashe. Anscheinend lautete sein Name Frederick Lloyd. Ashe sah zu ihm auf und bemerkte, dass sein Kinn trotzig vorgeschoben war. Wahrscheinlich stieß er in den meisten menschlichen Institutionen auf reichlich Schwierigkeiten.
»Es ist mein gutes Recht, einen Ausweis zu beantragen. Ich muss nicht legal am Leben sein, um Bücher auszuleihen.«
»Stimmt«, bestätigte sie und versuchte, nicht angewidert zu klingen. »Aber ein Papier mit einer örtlichen Adresse wäre gut. Der Führerschein wurde nicht in Fairview ausgestellt.«
»Ich bin gerade erst hergezogen.«
Ashe ging unauffällig einen Schritt zurück. Vampire zogen nicht von einer Stadt in die andere, außer, sie gehörten zur Entourage eines Staatsbesuches. Dieser hier kam aus dem Gebiet des Königs des Ostens, einem großen Territorium, das sich von Detroit bis Atlanta und südlich bis Virginia erstreckte. Was war los? Wusste Alessandro, der Ordnungshüter-Vampir, dass ein Fremder in der Stadt war?
Die Heizung sprang an und blies einen Luftschwall in Ashes Richtung. Unwillkürlich zuckte sie zusammen.
Reiß dich am Riemen!
Frederick Lloyd beobachtete sie mit der Geduld einer Raubkatze. Seine Augen mussten früher einmal braun gewesen sein; heute waren sie bernsteinfarben. Dunkle Wimpern bogen sich wie Flügel über ihnen. Er starrte so angestrengt, dass er zu atmen vergessen hatte. Als er sich auf die Unterlippe biss, guckte eine Reißzahnspitze hervor.
Na klasse, er flirtet mit mir!
Ashe musste wieder an den Vampir-Heckenschützen denken. Misstrauen regte sich in ihr, drängelte sich in ihr Denken wie ein dunkler ekliger Käfer. Waren diese Träume in letzter Zeit nur ihrer Angst entsprungen, oder bedeuteten sie mehr? Ashe sah sich um. Gleich schloss die Bücherei. Die Besucher gingen. Ein paar letzte Kunden standen vor Ginas Tresen an. Sie hatten keine Ahnung, dass wenige Meter weiter ein Raubtier stand.
Er beugte sich näher zu ihr. Die Ellbogen auf den Tresen gestützt, reckte er leicht das Kinn, und seine Nasenflügel weiteten sich. Weil sie die Spezies kannte, wusste Ashe, dass er versuchte, ihren Duft einzufangen.
Auf der Jagd.
Sie griff nach dem Regal unter dem Tresen. Dort streiften ihre Finger einen Klebebandabroller, einen Hefter und schließlich das Holzlineal, das sie an ihrem ersten Arbeitstag bereitgelegt hatte. Für alle Fälle. Es besaß eine brauchbare Metallkante: nicht so gut wie eine richtige Waffe, aber Büchereimitarbeiterinnen durften nun einmal keine Uzi bei der Arbeit tragen.
Schaff ihn verdammt noch mal hier raus!
»Wir können Ihnen einen befristeten Leihausweis geben, bis Sie fest in Fairview gemeldet sind.«
»Lieber hätte ich was Dauerhaftes«, entgegnete er und genoss die Doppeldeutigkeit sichtlich.
»Das wäre gegen unsere Grundregeln. Wenn Sie unsere Bücher ausleihen, müssen wir wissen, wo wir die Gebühren für überschrittene Leihfristen bekommen.«
»Statten Sie persönlich Besuche ab, um Verlängerungsgebühren einzutreiben?« Er grinste schmierig.
O Gütiger, dem war entschieden zu oft erzählt worden, er wäre ein scharfer Typ!
»Glauben Sie mir, wenn ich entscheide, dass Sie überfällig sind, kümmer ich mich höchstpersönlich um Sie, ein für alle Mal!« Sie gab ihm seinen Führerschein zurück. »Sie haben die Wahl. Entweder nehmen Sie eine befristete Leihkarte, oder Sie kommen mit einem aktualisierten Ausweis wieder.«
»Sie sehen mir nicht wie eine aus, die sich an die Regeln hält.«
»Ich tue es, wenn es mir passt.«
»Aber Sie lockern sie nicht aus reiner Nettigkeit, was?«
»Ich bin kein netter
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