Seelenkuss
zweite ihrer Mägde, Briga, stand da, die Augen groß vor Entsetzen, und stammelte etwas, das Darejan im ersten Moment nicht verstand. Nur eines hörte sie heraus, einen Namen: Nian! Hastig schob sie sich an Briga vorbei, aus ihrem Gemach, und blieb abrupt direkt wieder stehen. Ein Wächter kniete neben etwas, das lang hingestreckt auf dem Boden lag. Hastige Schritte näherten sich.
» Was…? «
Der Mann sah auf und schüttelte den Kopf. » Sie ist tot, Prinzessin. « Jetzt erst begriff Darejan, dass er sich über Nians leblosen Körper beugte. Hinter sich hörte sie Briga haltlos schluchzen. Zögernd ging sie zu dem Krieger hin, sank ebenfalls auf die Knie. Ihre Hand zitterte, als sie sie nach der Toten ausstreckte und ihr sacht das Haar aus dem Gesicht strich. Sie schauderte bei dem Anblick. Nians Züge waren zu einer Fratze verzerrt, der Mund zu einem lautlosen Schrei aufgerissen. Ihre Haut war selbst für eine Tote unnatürlich grau und runzlig und spannte sich pergamenten über den scharf hervortretenden Wangenknochen, über denen die Augen viel zu tief eingesunken schienen. Ein Stück weiter den Korridor entlang drängten sich flüsternd Bedienstete, die von dem Schrei der Magd aufgeschreckt worden waren und eben von zwei weiteren Wächtern zurückgedrängt wurden. Das Flüstern verstummte, als sich eine schlanke Gestalt zwischen ihnen hindurch schob. Die Männer und Frauen machten hastig Platz, als sie die Königin erkannten.
Seloran blieb neben der Toten stehen und blickte schweigend auf sie hinab. Im Licht der Kerzen, die den Korridor erhellten, schimmerte ihre Haut wie helles, poliertes Perlmut und schmiegte sich weich über ihre eleganten Wangenknochen. In ihren dunkelblau schillernden Augen brannte ein seltsames Feuer. Die Schatten um sie herum waren verschwunden. Ein unergründlicher Zug huschte um ihre Lippen, dann hob sie den Blick und sah Darejan an. Ein Grollen überall um sie her. Schatten, die vor behauenen Felswänden waberten. Der reglose Körper eines Mannes. Über einen Felsen hingestreckt. Die Brust blutverschmiert. Schimmerndes Grau. Nebelfäden, die sich umeinanderwanden. Wütendes Heulen, das zu Gelächter wurde. Eine Stimme … – Vergiss! Der Schmerz war so unvermittelt in Darejans Kopf, dass sie nicht mehr spürte, wie sie bewusstlos neben Nian auf den Boden schlug.
6
U nter ihm erklang das stetige, leise Klatschen, mit dem die Wellen sich an den Pfählen aus Gedanholz brachen, die die Lagunenstadt schon seit Hunderten von Jahresläufen trugen. Dazwischen trieben träge Tangbündel, die für jemanden, der es wagte, hier ins Wasser zu steigen, zu einer tödlichen Falle werden konnten. Zuweilen durchbrach ein dumpfer Schlag das gleichförmige Geräusch, wenn ein an ihnen vertäutes Boot oder ein Stück Treibholz gegen einen der salz- und muschelverkrusteten Pfeiler prallte.
Irgendwo zu seiner Rechten wurde für einen kurzen Augenblick trunkenes Gelächter laut, als eine Schenkentür sich öffnete und gleich wieder schloss. Gröhlend wankten ein paar Meeresknechte an ihm vorbei, ohne seiner zusammengesunkenen Gestalt auch nur einen flüchtigen Blick zu gönnen. Er lehnte den Kopf gegen die Hüttenwand in seinem Rücken und schob die Kapuze seines Umhangs ein wenig zurück. Das Wasser der Hafenbucht schimmerte schwarz. Doch draußen, jenseits der Seetürme, verwandelte der Mond es in einen Teppich aus flüssigem Silber, der bis zu jener fernen Linie zu reichen schien, an der Meer und Himmel sich vereinten. Der Geruch von Salz, Tang und dem Bergpech, mit dem die Fischer ihre flachen Boote kalfaterten, hing in der Luft und überdeckte schwach den bitteren Gestank, den der zähe Nebel mit sich brachte, der wie jede Nacht in trägen Schwaden durch die Stadt strich und sich zwischen den Gedanholzpfählen unter seinen Füßen ebenso festsetzte wie um die einfachen Holzhütten herum, die sich auf die hölzernen Planken duckten, die den Boden der Lagunenstadt bildeten.
Ein Schatten huschte aus einer der schmalen Gassen und verharrte. Von dem dunklen Umhang verdeckt legte seine Hand sich auf den Dolch an seiner Seite. Nur ein Narr wagte sich bei Nacht in die Lagunenstadt, wenn er nicht mit einer Klinge umzugehen wusste. Doch der Schatten blickte sich nur sichernd um und verschwand dann in einer der gut verborgenen Bodenluken, die zu den Plankenstegen führten, die unterhalb der Holzbohlen auf dem Hafenwasser trieben, gehalten von Tauen und Ketten. Bei Flut hoben sie sich hoch unter den
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