Seelenkuss
Boden geschrieben war. Bis sie mit einem Mal noch etwas anderes fühlte: ihre eigene, versiegte Magie, die sich tief in ihr wieder zu regen begann, so als gäbe es an diesem Ort Mächte, die sie mit der Zeit zu neuem Leben erwecken könnten. Aber auch wenn sie viel zu schwach war, um ihr von Nutzen zu sein, so hatte es doch etwas seltsam Tröstliches, sie wieder zu fühlen. Verstohlen blickte sie zu Ahoren hin, ob auch er das leise Beben der Magie gespürt hatte, und erschrak. Die Schönheit war endgültig aus den Zügen ihrer Schwester gewichen. Die Haut war grau und brüchig wie altes Pergament. Die Augen lagen tief in den Höhlen und waren von dunklen Schatten umgeben. Nase, Kiefer und Wangenknochen traten wie in einem Totenschädel hervor, während die Wangen eingesunken waren.
Als habe er ihren Blick bemerkt, hob er den Kopf und sah sie an. Die ehemals blauen Augen hatten sich mit einem grauen Schleier überzogen. Das halbe Lächeln, zu dem sich der Mund verzog, ließ die rissig gewordenen Lippen bluten. Er schien aufstehen zu wollen, sank aber wieder zurück.
» Bringt mir das Mädchen « , befahl er mit heiserer Stimme.
Einer der Grauen Krieger setzte sich schweigend in Bewegung. Mirija schrie, als er sie packte und dicht vor seinen Herrn schleppte, der sich nun doch aus seinem Stuhl gestemmt hatte. Der Schrei verstummte zu einem ängstlichen Keuchen. Sie wand sich im Griff des BôrNadár, der ihr die Arme auf den Rücken gedreht hatte, erstarrte jedoch wie ein Nassrel unter dem Blick eines Wolfes, als Ahoren eine zur Klaue gekrümmte Hand in ihren Nacken schob. Ihre Atemzüge verwandelten sich in ein hohes Wimmern. Ahoren beugte sich vor, presste seine rissigen Lippen auf Mirijas und sie begann wieder zu schreien.
» Nein! Was tut ihr da? « Auch Darejan war aufgesprungen, doch einer der Grauen Krieger vertrat ihr den Weg und packte sie an der Schulter. Die eisige Kälte seines Griffes ließ sie stöhnen, dann wurde sie hart in ihren Stuhl zurückgestoßen. Hilflos sah sie mit an, wie Mirijas Körper im Griff des BôrNadár zuckte, während Ahorens Mund ihre Schreie erstickte. Wie ihre Augen schließlich glasig wurden und ihre Schreie zu einem Stöhnen. Das jäh abbrach, als Ahoren die Lippen sichtlich widerstrebend von ihren nahm und sich von ihr löste. Wie sie unvermittelt zusammensank, wie eine Marionette, deren Fäden man durchschnitten hatte. Ihre Züge hatten jede Farbe verloren. Matt und strähnig hing ihr das Haar in die Augen, die unter bläulich verfärbten Lidern tief eingesunken waren. Ihr Mund war rot von dem Blut, das auf Ahorens Lippen gewesen war. Dann drehte sich der Körper ihrer Schwester zu ihr um und Darejan presste sich ächzend gegen die Lehne ihres Stuhles. In Selorans Gesicht schimmerte die Haut wieder wie helles Perlmutt. Die Augen schillerten erneut in einem dunklen Blau. Die Schatten waren verschwunden und die Knochen traten nicht mehr so scharf hervor. Ahoren wischte sich die letzten Spuren seines Blutes von den weichen Lippen. Während er Darejan ansah, nickte er dem BôrNadár zu, der Mirijas schlaffen Körper wieder an der Wand zu Boden fallen ließ.
Sie drängte das lähmende Entsetzen zurück, wollte aufstehen und zu der jungen Frau hinüber, doch erneut wurde sie von dem Grauen Krieger auf ihren Platz zurückgestoßen. Das Lächeln, mit dem Ahoren sie bedachte, ließ ihr den Atem stocken.
» Du kannst unbesorgt sein, meine Liebe. Es geht ihr gut. « Seine Stimme hatte ihre raue Brüchigkeit verloren.
» Gut? « , echote Darejan bebend. Ihr Blick ging zwischen Mirijas reglosem Körper und Ahoren hin und her. » Was seid ihr nur für ein Ungeheuer. «
» Tststs. « Sie wurde mit einem tadelnden Kopfschütteln bedacht. » Auch ich muss mich nähren. Und wo ist letztendlich der Unterschied zwischen einem Tier und einem Menschen? «
Die Verachtung in seinen Worten machte Darejan sprachlos. Sie wandte das Gesicht ab, starrte auf einen Astknoten in der Täfelung hinter dem Ratstisch und versuchte nur noch an das Schimmern des Holzes zu denken, damit das Grauen nicht endgültig in ihren Verstand kroch. Sie zuckte zusammen, als einer der Korun neben sie trat und ein Speisebrett auf den Tisch stellte.
» Verzeih mir, meine Liebe. Ich bin ein schlechter Gastgeber. Ich speise hier und lasse dich zusehen. Du musst hungrig sein. Immerhin ist Mittag schon vorbei. « Ahorens Stimme erreichte Darejan wie durch dichten Nebel. Sie konnte nur den Korun anstarren.
» Noren? « ,
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