Seelenkuss
warten, bis die Sonne wieder untergeht. « Er tätschelte ihren Arm, richtete sich auf und kehrte zu seinem eigenen Platz zurück, auf dem er sich schwerfällig niederließ. Einen langen Moment starrte Darejan ihn fassungslos an. Nur allmählich begriff ihr Verstand, dass er genau das meinte, was er gesagt hatte. Sie sollte hier sitzen und auf ihren Tod warten. Eine Fluchtmöglichkeit gab es nicht. Zwar befand sich hinter dem Stuhl des DúnAnór eine Tür, doch sie würde niemals an den beiden Grauen Krieger vorbeikommen, die davor standen. Zudem wusste sie nicht, ob die Tür verschlossen war, geschweige denn, wohin sie führte. Und selbst wenn sie es schaffen würde: Wohin sollte sie gehen? Es gab hier niemanden mehr, den sie um Hilfe bitten konnte. Und sie konnte Mirija nicht im Stich lassen, die wie ein achtlos in die Ecke geworfenes Bündel hinter dem Ratstisch an der Wand lag. Sie sah zu dem DúnAnór. Auch ihn konnte sie nicht im Stich lassen. Ihn nicht. Niemals.
Darejan senkte den Blick auf ihre Hände und sehnte den Abend herbei, damit es endlich vorbei sein würde.
46
W ie zum Hohn verrannen die Stunden in qualvoller Langsamkeit. Zuerst hatte Darejan dumpf die Wanderung der Sonne auf dem Mosaik der Halle verfolgt, doch als das Licht schließlich grell und unbarmherzig auf die Leichen der Ermordeten fiel und all die Kleinigkeiten enthüllte, die zuvor gnädig verborgen gewesen waren, wandte sie sich ab und starrte stattdessen auf die mit uraltem Rildenholz getäfelte Wand hinter dem Ratstisch. Oqwen. Siére. Lurden. Parrde… Und die bösartige Stimme in ihrem Kopf wiederholte auch jetzt wieder, wie sie es schon die ganze Zeit tat, dass ihr Tod letztlich nur ihre Schuld war. Und sie schaffte es einfach nicht, sie zum Schweigen zu bringen.
Irgendwann konnte sie auch den Anblick der schimmernden schwarzen Maserung nicht mehr ertragen, zog die Füße auf den Sitz ihres Stuhles, schlang die Arme um die Beine, bettete den Kopf auf die Knie und beobachtete den Staub, der im Sonnenlicht über der Empore tanzte. Immer wieder blickte sie zu dem DúnAnór hin, doch der saß die ganze Zeit so vollkommen reglos, dass man hätte glauben können, es sei bereits kein Leben mehr in ihm. Nur manchmal konnte sie hören, wie er ein wenig tiefer Atem holte. Dann durchrann ihn ein Zittern, und seine Finger umklammerten die Lehnen, auf denen seine Arme lagen, für einen kurzen Augenblick so fest, dass die Sehnen auf seinen Handrücken hervortraten. Aber schon einen Moment später erschlaffte er wieder und saß erneut vollkommen reglos. Vielleicht war es ja eine Gnade, dass er endgültig nicht mehr begriff, was um ihn herum geschah.
Irgendwann war auch Mirija wieder zu sich gekommen. Nun hockte sie zusammengekauert an der Wand und beobachtete alles mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen. Nur gelegentlich hatte Darejan sie leise wimmern hören, ein Laut, der in der grabesähnlichen Stille umso verlorener klang. Nichts außer dem Staub und den Sonnenstrahlen bewegte sich. Die BôrNadár schienen zu grauen Schatten erstarrt zu sein, die es irgendwie schafften, dem Licht zu trotzten, während die Korun wie vergessene Marionetten an den Seiten der Halle standen. Selbst der Körper ihrer Schwester saß reglos auf ihrem Stuhl. Wie eine seelenlose Hülle, die immer mehr in sich zusammensank, je weiter die Sonne durch die Halle und über die Stufen zur Empore hinaufkroch. Es war, als sei Darejan bei lebendigem Leib in einem Mausoleum voller Toter eingeschlossen worden.
Es war gegen Mittag, als sich eine leise Unruhe unter den Korun auszubreiten schien. Das Scharren von Füßen und das Schaben von Stoff auf Stein drang zu ihr. Vereinzelt klirrte auch Stahl. Die BôrNadár hatten ihren Platz hinter dem DúnAnór aufgegeben. Die Sonne tauchte diesen Teil der Empore in ihr goldenes Licht und brachte die Edelsteinlinien über und in seiner Braue zum Funkeln. Darejans Rücken schmerzte vom langen, nahezu reglos Dasitzen. Zugleich ringelte Schweiß ihr Haar am Nacken und klebte ihr schwarzsilberne Strähnen auf den Hals. Doch sie hatte der Sonne gar nicht ausweichen wollen… Es hatte so allmählich begonnen, dass Darejan es zuerst gar nicht bemerkt hatte. Dann jedoch hatte sie nicht nur die Wärme auf ihrer Haut gespürt, sondern tief in ihrem Inneren auch das unmerkliche Beben einer uralten Macht. Und während ihr nach und nach der Schweiß in feinen Tropfen über den Nacken perlte, spürte sie die Magie immer stärker, die hier in den
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