Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenlos

Seelenlos

Titel: Seelenlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Koontz
Vom Netzwerk:
kosten von dessen Fleisch. Besucher dürfen nur zuschauen. Das Opfer findet auf einem gewaltigen schwarzen Stein statt, der an zwei dicken Ketten hängt. Die wiederum sind an einer Eisenstange befestigt, die oben in den Wänden verankert ist.«
    Ihre Hand griff fester nach meiner, als sie sich die grausige Szene ins Gedächtnis rief.
    »Der Mensch, der als Opfer dient, wird mit einem Messerstich durchs Herz getötet, und im selben Augenblick beginnen die Ketten zu tönen. Der Gros-bon-ange flieht sofort aus dieser Welt, aber der Ti-bon-ange kann nur an den Ketten auf- und abgleiten, weil er von der Zeremonie zurückgehalten wird.«
    Meine Hand wurde feucht und klamm.
    Bestimmt spürte sie die Veränderung.
    Der feine, verstörende Duft, den ich bei meinem ersten Blick ins Treppenhaus wahrgenommen hatte, stieg mir wieder in die
Nase. Er roch nach Moschus und Pilzen und erinnerte mich merkwürdig an rohes Fleisch.
    Wie vorher kam mir das tote Gesicht des Mannes, den ich im Kanal gefunden hatte, in den Sinn.
    »Wenn man den tönenden Ketten aufmerksam lauscht«, fuhr Datura fort, »dann hört man, dass es nicht nur das Geräusch der Eisenringe ist, die sich aneinander reiben. Man hört eine Stimme, ein Heulen voll Furcht und Verzweiflung, ein wortloses, dringliches Flehen.«
    Wortlos und dringlich flehte ich sie an, endlich den Mund zu halten.
    »Diese gequälte Stimme ist so lange zu hören, wie die Couchons Gris von dem Fleisch auf dem Altar kosten, normalerweise eine halbe Stunde. Sobald sie fertig sind, hören die Ketten sofort auf zu tönen, weil sich der Ti-bon-ange zerstreut und in gleichem Maße von allen aufgenommen wird, die von dem Opfer gekostet haben.«
    Wir waren noch drei Treppen vom Erdgeschoss entfernt, und ich wollte eigentlich absolut nichts mehr davon hören. Wenn die Geschichte jedoch wahr war, und den Eindruck hatte ich, dann verdiente das Opfer eine Identität, statt anonym zu bleiben wie ein gemästetes Kalb.
    »Wer war das?«, fragte ich mit dünner Stimme.
    »Wer war was?«
    »Das Opfer. Wer war es in jener Nacht?«
    »Ein Mädchen von dort. Etwa achtzehn, nicht besonders hübsch. Ein Mauerblümchen. Jemand hat gesagt, sie sei eine Näherin gewesen.«
    Meine rechte Hand wurde zu schwach, um etwas greifen zu können. Erleichtert ließ ich Datura los.
    Amüsiert lächelte sie mich an, diese Frau, die körperlich in fast jeder Hinsicht vollkommen war und deren Schönheit, so
eisig sie auch sein mochte, den Männern sicherlich überall den Kopf verdrehte.
    Mir fiel ein Zitat von Shakespeare ein: Oh, was ein Mensch in sich verbergen kann, siehst du von außen ihm auch nur den Engel an!
    Little Ozzie, mein literarischer Mentor, der sich immer die Haare raufte, weil ich mich in den Klassikern kaum auskannte, wäre stolz gewesen. Da war mir doch tatsächlich ein Spruch von Shakespeare in den Sinn gekommen, wörtlich und genau im richtigen Moment.
    Allerdings hätte Ozzie mir auch vorgehalten, wie dämlich es sei, in einer solchen Situation an einer Abneigung gegen Schusswaffen festzuhalten. Schließlich hatte ich mich in die Gesellschaft von Leuten begeben, die in ihrer Freizeit nicht ins Theater gingen, sondern zu einem Menschenopfer.
    Während wir die letzte Treppe hinuntergingen, fuhr Datura fort: »Es war eine faszinierende Erfahrung. Die Stimme in den Ketten hatte genau denselben Klang wie die der kleinen Näherin, als sie noch lebendig auf dem schwarzen Stein gelegen hatte.«
    »Hatte sie einen Namen?«
    »Wer?«
    »Die Näherin.«
    »Wieso?«
    »Hatte sie einen Namen?«, wiederholte ich.
    »Ganz bestimmt. Einen von diesen merkwürdigen haitianischen Namen. Gehört hab ich ihn nicht. Aber viel wichtiger ist, dass ihr Ti-bon-ange sich in keiner Weise materialisiert hat. Ich wollte ihn sehen , aber es gab nichts zu sehen . Das war enttäuschend. Ich wollte unbedingt etwas sehen !«
    Jedes Mal, wenn sie das Wort sehen aussprach, hörte sie sich an wie ein schmollendes Kind.

    »Du wirst mich doch nicht enttäuschen, oder, Odd Thomas?«
    »Nein.«
    Wir erreichten das Erdgeschoss, und Robert ging weiter voraus. Nun hielt er seine Laterne höher als auf der Treppe.
    Auf dem Weg zum Kasino achtete ich auf die Topografie aus Schutt und ausgebrannten Räumen, um sie mir so gut einzuprägen, wie ich nur konnte.

36
    In dem fensterlosen Kasino saß der vergnügt aussehende Mann mit dem schütteren Haar an einem der zwei verbliebenen Blackjack-Tische, wo ich ihn bereits vorher gesehen hatte. Fünf Jahre

Weitere Kostenlose Bücher