Seelenlos
befestigt hatte. Scheinbar hatte niemand etwas dagegen, dass ich sie mitnahm.
Eine Benzinlaterne in der Hand, führte Robert uns zur nächsten Treppe. André bildete mit der zweiten Laterne die Nachhut.
Zwischen den beiden großen, schweigenden Männern stiegen Datura und ich die breiten Stufen hinab, nicht hintereinander, sondern Seite an Seite, weil sie darauf bestand.
Als wir den Absatz der nächsten Etage erreicht hatten, hörte ich plötzlich ein bedrohliches, nicht enden wollendes Zischen. Fast war ich schon bereit zu glauben, es sei der Geist der Schlange, den Datura angeblich in sich trug, da wurde mir klar, dass es sich um das Geräusch der Lampen handelte.
Wenig später ergriff Datura meine Hand. Am liebsten hätte ich mich angewidert ihrem Griff entzogen, aber dann hätte sie André womöglich befohlen, mir meine Hand als Strafe für diese Beleidigung einfach abzuhacken.
Das war jedoch nicht der einzige Grund, weshalb ich mich nicht gegen die Berührung wehrte. Statt einfach dreist die Hand zu packen, hatte Datura sie zögernd, fast scheu genommen und dann festgehalten wie ein Kind, das einem schaurigen Abenteuer entgegengeht.
Dass in dieser wahnsinnigen, verworfenen Frau noch eine winzige Spur des unschuldigen Kindes existierte, das sie einmal gewesen sein musste, war eher unwahrscheinlich. Die regelrecht demütige Art und Weise, wie sie ihre Hand in meine geschoben hatte, und ihr leichtes Zittern angesichts dessen, was vor ihr lag, wiesen jedoch auf eine kindliche Verletzlichkeit hin.
In dem gespenstischen Licht, das ihr eine fast übernatürliche Aura verlieh, sah sie mich an. Staunen tanzte in ihren Augen. Es war nicht der Medusenblick, den sie bisher zur Schau gestellt hatte, denn nun fehlten der kalte Hunger und die Berechnung.
Auch ihr Lächeln war jetzt ohne Spott und Drohung. Es drückte ein natürliches, gesundes Vergnügen an einer konspirativen Unternehmung aus.
Trotz alledem musste ich mich davor hüten, nun Mitgefühl zu empfinden. Wie leicht wäre es gewesen, sich eine traumatische Kindheit vorzustellen, durch die Datura derart deformiert worden war! Von da aus war es dann nicht mehr weit zu der Idee, diese Verletzungen könnten durch genügend Freundlichkeit ausgeglichen, ja geheilt werden.
Womöglich war Datura jedoch gar nicht durch ein Trauma geprägt worden. Sie konnte auch schon so geboren sein, also ohne die genetischen Grundlagen für Empathie und andere grundlegenden Fähigkeiten zu haben. In diesem Fall hätte sie jede Freundlichkeit als Schwäche ausgelegt, und unter Raubtieren forderte jedes Anzeichen von Schwäche einen Angriff heraus.
Zudem: Selbst wenn sie unter einem Trauma litt, dann war das keine Entschuldigung für das, was man Dr. Jessup angetan hatte.
Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, fiel mir die Geschichte eines Zoologen ein, der an der Menschheit verzweifelt war und deshalb auf die Idee kam, eine Dokumentation über die moralische Überlegenheit von Tieren zu drehen. Im Zentrum des Films sollten Bären stehen, denen der Forscher nicht nur eine harmonische Beziehung zur Natur zuschrieb, wie die Menschheit sie seiner Meinung nach nie erreichen konnte, sondern auch eine dem Menschen verschlossene Verspieltheit. Bären, meinte der gute Mann, besäßen eine besondere Würde, empfänden Mitgefühl für andere Tiere und hätten sogar eine mystische Qualität, die er äußerst bewegend fand. Am Ende wurde er von einem Bären gefressen.
Nicht, dass ich in Gefahr gewesen wäre, einer derartigen Selbsttäuschung zu unterliegen. Dafür sorgte Datura selbst,
die mich schon nach drei Treppen wieder rüde zur Besinnung brachte, indem sie eine ihrer charmanten Anekdoten vom Stapel ließ. Sie mochte den Klang ihrer eigenen Stimme so sehr, dass sie den guten Eindruck, den ihr Lächeln und ihr Schweigen hinterlassen hatten, einfach nicht lange stehen lassen konnte.
»Wenn man in Port-au-Prince unter dem Schutz eines anerkannten Juju-Adepten steht, kann man zu einer Zeremonie in einem der verbotenen Geheimbünde eingeladen werden. Die meisten Voodoo-Anhänger wollen mit denen nichts zu tun haben. In meinem Fall waren es die Couchons Gris, die ›Grauen Schweine‹. Jedermann auf der Insel fürchtet sie, und in den ländlichen Gebieten beherrschen sie die Nacht.«
Das ließ daraus schließen, dass die Grauen Schweine mit Institutionen wie der Heilsarmee nicht viel gemein hatten.
»Von Zeit zu Zeit bringen die Couchons Gris ein Menschenopfer dar – und
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