Seelenlos
Nacht als Kellnerin im Ballsaal gearbeitet.«
Der Ballsaal. Die herabgestürzte Decke. Das Gewicht des riesigen Kronleuchters, der mehrere Menschen zermalmt oder aufgespießt hatte.
»Die andere Schwester war im Hauptrestaurant als Empfangsdame angestellt«, fuhr Datura fort. »Maryann hatte sich ihrer Kontakte bedient, um den beiden einen Job zu verschaffen.«
Wenn das stimmte, dann fühlte sich die Cocktailkellnerin womöglich dafür verantwortlich, dass ihre Schwestern sich zum Zeitpunkt des Erdbebens im Hotel befunden hatten. Erfuhr sie, dass sie noch lebten, dann war sie wahrscheinlich bereit, die Ketten abzuwerfen, die sie an diese Welt und die Ruine hier fesselten.
Selbst wenn ihre Schwestern ums Leben gekommen waren, befreite diese traurige Wahrheit sie vermutlich aus ihrem selbst gewählten Fegefeuer. Ihre Schuldgefühle würden dadurch zwar zunehmen, aber die Hoffnung auf ein Wiedersehen in der nächsten Welt würde noch stärker sein.
In Daturas Augen lag nun weder die kalte Berechnung, mit der sie in Zimmer 1203 aufgetreten war, noch das kindliche Staunen, das auf dem Weg herab vom zwölften Stock vorübergehend aufgeleuchtet war. Stattdessen sah ich Bitterkeit und Gemeinheit in ihrer wilden Miene und war davon genauso angewidert wie in dem Augenblick, in dem sie mir mit blutverschmierter Hand das Weinglas an die Lippen gedrückt hatte.
»Die Toten, die hier verweilen, sind verletzlich«, sagte ich warnend. »Wir schulden ihnen die Wahrheit, nur die Wahrheit, aber das ist noch nicht alles. Durch das, was wir sagen und wie wir es tun, müssen wir sie trösten und ihnen Mut machen weiterzuziehen. «
Schon während ich mich reden hörte, erkannte ich, dass es völlig sinnlos war, Datura zu einem mitfühlenden Handeln bringen zu wollen.
Nun wandte sie sich direkt an den Geist, den sie nicht sehen konnte: »Deine Schwester Bonnie ist am Leben.«
Im Gesicht der toten Maryann Morris leuchtete Hoffnung auf. Selbst einen ersten Funken Freude konnte ich erkennen.
»Ihr Rückgrat ist gebrochen, als im Ballsaal ein tonnenschwerer Kronleuchter auf sie herabgestürzt ist«, fuhr Datura fort. »Das Ding hat sie total zermalmt und ihr die Augen ausgestochen …«
»Wieso tust du das?«, fragte ich flehentlich. »Hör auf!«
»Jetzt ist Bonnie vom Hals abwärts gelähmt und außerdem blind. Sie lebt von Sozialhilfe in einem miesen Pflegeheim, wo sie wahrscheinlich daran sterben wird, dass man sich nicht um ihre wund gelegenen Stellen kümmert.«
Ich wollte sie zum Schweigen bringen, selbst wenn ich ihr dazu eine Ohrfeige verpassen musste. Vielleicht wollte ich auch bloß einen Vorwand, damit mir die Hand ausrutschte.
André und Robert starrten mich an, als wüssten sie, was ich dachte. Ihre Muskeln waren angespannt.
Das Vergnügen, Datura eins überzubraten, wäre es wohl wert gewesen, mich anschließend von ihren beiden Gorillas verprügeln zu lassen, doch ich erinnerte mich daran, dass ich wegen Danny hierhergekommen war. Die Cocktailkellnerin war tot, aber mein Freund mit den brüchigen Knochen hatte eine Chance weiterzuleben. Darauf musste ich mich konzentrieren.
»Bei Nora, deiner anderen Schwester«, sagte Datura zu dem Geist, »waren achtzig Prozent der Haut verbrannt, doch sie hat überlebt. Drei Finger ihrer linken Hand sind völlig verkohlt, genauso wie ihr Haar und viele ihrer Gesichtszüge. Ein Ohr. Die Lippen. Die Nase. Einfach nicht mehr da, wie weggefressen.«
In die Miene der Kellnerin war tiefer Kummer getreten. Ich konnte es nicht mehr ertragen, sie anzuschauen, weil ich nichts
zu tun vermochte, um sie angesichts dieser bösartigen Attacke zu trösten.
An Daturas raschem, flachem Atem war zu merken, dass sie sich nun von der Wölfin in ihrem Innern beherrschen ließ. Statt Zähnen nutzte sie ihre Worte, statt Klauen ihre Grausamkeit.
»Deine Nora hat schon sechsunddreißig Operationen hinter sich, und weitere sind vorgesehen – Hauttransplantationen, Gesichtsrekonstruktion, schmerzhaft und langwierig. Trotzdem sieht sie immer noch scheußlich aus.«
»Das fantasierst du dir doch bloß zusammen!«, unterbrach ich sie.
»Von wegen! Sie ist tatsächlich scheußlich. Sie geht nur selten aus dem Haus, und wenn sie’s tut, dann trägt sie einen Hut und wickelt sich einen Schal um ihr abstoßendes Gesicht, damit die Kinder nicht vor ihr davonlaufen.«
Die aggressive Schadenfreude und die unerklärliche Bitterkeit, mit der Datura ihr Gift verspritzte, verrieten, dass ihr vollkommenes
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