Seelenlos
die Fingernägel der rechten, so langsam und penibel, als wollte er Stunden damit verbringen.
Anfangs hatte ich vermutet, die beiden seien dumm wie Bohnenstroh, aber inzwischen war ich mir dessen nicht mehr sicher. Zu intellektuellen Feinheiten und philosophischen Betrachtungen war ihr Innenleben wahrscheinlich nicht geeignet, doch ich ahnte, dass sie zu mehr fähig waren, als es den Anschein hatte.
Vielleicht waren sie schon jahrelang mit Datura zusammen und hatten an so vielen Gespensterjagden teilgenommen, dass die Aussicht auf übernatürliche Erfahrungen bei ihnen keinen Nervenkitzel mehr hervorrief. Schließlich konnten selbst die exotischsten Unternehmungen mit der Zeit langweilig werden.
Außerdem redete Datura offensichtlich wie ein Wasserfall. Da war es verständlich, dass die beiden sich ins Schweigen flüchteten und sich dadurch eine innere Rückzugsmöglichkeit schufen, um das unablässige Geschnatter unbeschadet an sich ablaufen zu lassen.
»Na schön, dann warten wir eben auf den fünften Geist«, sagte sie und zupfte mich am T-Shirt. »Aber erzähl mir doch mal von denen, die bereits hier sind. Wo stehen sie? Wer sind sie?«
Um sie hinzuhalten, während ich unruhig darauf wartete, dass der Tote, den ich am meisten brauchte, endlich auftrat, beschrieb ich den Spieler am Blackjack-Tisch, sein freundliches Gesicht, den vollen Mund und die Grübchen am Kinn.
»Also tritt er so in Erscheinung, wie er vor dem Feuer war?«, fragte Datura.
»Richtig.«
»Wenn du ihn nachher für mich beschwörst, dann will ich ihn in beiden Formen sehen – wie er im Leben war und was das Feuer ihm angetan hat.«
»In Ordnung«, sagte ich, weil sie sich ohnehin nie davon überzeugen lassen würde, dass es nicht in meiner Macht stand, solche Offenbarungen zu erzwingen.
»Bei allen will ich sehen, was mit ihnen geschehen ist. Ihre Wunden, ihr Leiden.«
»In Ordnung.«
»Wer ist sonst noch da?«
Nacheinander deutete ich dorthin, wo sie standen: die alte Frau, der Wachmann, die Cocktailkellnerin.
Von Interesse fand Datura nur die Kellnerin. »Du hast gesagt, sie hätte dunkle Haare. Sind die einfach nur dunkel oder richtig schwarz?«
Ich betrachtete die Erscheinung, die als Reaktion auf meinen Blick näher kam, genauer. »Schwarz«, sagte ich. »Rabenschwarz.«
»Graue Augen?«
»Ja.«
»Über die weiß ich Bescheid. Da gibt es eine Geschichte«, sagte Datura mit einer Begeisterung, die nichts Gutes verhieß.
Den Blick nun auf Datura gerichtet, kam die junge Kellnerin näher, bis sie nur noch einen guten Meter von uns entfernt war.
Datura kniff die Augen zusammen, um den Geist zu sehen, schaute jedoch haarscharf an ihm vorbei. »Weshalb bleibt sie hier?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Die Toten sprechen nicht mit mir. Vielleicht bringst du sie zum Reden, wenn ich ihnen nachher befehle, auch für dich sichtbar zu werden.«
Ich sah mich in der Dunkelheit ringsum nach der Gestalt des großen, bulligen Mannes mit dem Bürstenhaarschnitt um. Noch
immer keine Anzeichen von ihm, und er war meine einzige Hoffnung.
»Frag sie mal, ob ihr Name Maryann Morris war«, befahl Datura.
Überrascht trat die Kellnerin zu ihr und legte ihr die Hand auf den Arm. Datura nahm das jedoch nicht wahr, da nur ich die Berührung der Toten spüren kann.
»Es muss Maryann sein«, sagte ich. »Sie hat auf den Namen reagiert.«
»Wo ist sie?«
»Direkt vor dir, in deiner Reichweite.«
Daturas zierliche Nasenflügel weiteten sich wie bei einem gezähmten Tier, das wieder in einen wilderen Zustand zurückkehrt. In ihren Augen funkelte eine plötzliche Erregung, und sie bleckte die blendend weißen Zähne, als hätte sie Blut gerochen.
»Ich weiß, weshalb Maryann nicht weiterziehen kann«, sagte Datura. »In der Zeitung stand ihre Geschichte. Sie hatte zwei Schwestern. Beide haben hier im Hotel gearbeitet.«
»Sie nickt«, berichtete ich Datura und wünschte mir im selben Augenblick, ich hätte den Kontakt nicht hergestellt.
»Ich möchte wetten, Maryann weiß nicht, was aus ihren Schwestern geworden ist, ob sie überlebt haben oder gestorben sind. Sie will nicht weiterziehen, bis sie das herausbekommen hat.«
Der bange Ausdruck auf dem Gesicht des Geistes, das nicht völlig ohne eine schwache Hoffnung war, wies darauf hin, dass Datura richtig geraten hatte. Um sie nicht zu ermutigen, verzichtete ich jedoch darauf, ihr das mitzuteilen.
Eine Ermutigung meinerseits hatte sie ohnehin nicht nötig. »Eine der Schwestern hat in jener
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