Seelenmoerder
hast.« Wie getrieben umrundete sie den Tisch, ehe sie stehen blieb und die Arme darauf stützte. »Sie hat dir nichts verraten, weil sie nichts weiß. Was ich dir auch hätte
sagen können, wenn du mich freundlicherweise in deinen Plan eingeweiht hättest.«
Er machte ihr nichts vor, wofür sie dankbar war, selbst wenn es vermutlich hieß, dass ihm die Sache nicht wichtig war. Stattdessen hielt er ihr schweigend einen Ordner hin und sah sie mit einer Miene an, die verdächtig nach Mitleid aussah. Ihr aufgestauter Zorn begann zu schwinden.
»Na los. Schau’s dir an.«
Sie beäugte den Ordner, als wäre er eine Giftschlange. Etwas anderes mischte sich in ihren Groll. Beklommenheit.
Es fiel ihr nicht leicht, nach dem Ordner zu greifen und ihn aufzuschlagen. So etwas wie die Fotos hatte sie schon fast erwartet, und ihr wurde leichter ums Herz. Sie zog eine Braue hoch. »Na und? Callie verkehrt in verrufenen Kneipen und tut hochriskante Dinge. Das ist nichts Neues.«
»Schau dir das letzte an.«
Etwas in seinem Blick, seiner Stimme warnte sie. Sie wappnete sich und blätterte den Stapel bis zum letzten Bild durch. Trotzdem war sie auf diesen Augenblick des Unglaubens, diesen bösartigen Schwinger in ihre Magengrube nicht gefasst.
Callie und Juárez.
»Das will überhaupt nichts heißen«, sagte sie mit erstaunlicher Gelassenheit. Erstaunlich, weil ihre Nerven bebten wie Porzellan bei einem Erdbeben. Ihre Gedanken überschlugen sich, und mögliche Erklärungen jagten im Schnelldurchlauf hinter ihren Zweifeln her. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie dadurch klarer denken. »Kein Wunder, dass sie ihm über den Weg gelaufen ist – schließlich besuchen sie beide dieselben Lokale.« Als Ryne sie weiterhin wortlos ansah, riss ihr der Geduldsfaden. »Juárez hat ein Alibi für die versuchte Vergewaltigung von Laura Bradford. Und er passt nicht zum Profil. Du glaubst doch nicht immer noch …«
Ryne ging zur Kaffeemaschine in der Ecke, kehrte mit einem gefüllten Becher zurück und drückte ihn ihr in die Hand.
»Trink das«, wies er sie barsch an.
Ihre Finger umschlossen das Styropor und genossen die Wärme, die es ausstrahlte. Ihr Blut schien zu Eis erstarrt zu sein.
»Denk nach. Du bist doch die Expertin für Viktimologie. Wir suchen nach Überschneidungen, hast du gesagt. Juárez ist ein Opfer, hast du gesagt. Also, das hier ist schon eine verteufelt zufällige Überschneidung, findest du nicht?«
Abbie trank einen Schluck Kaffee, hätte ihn jedoch beinahe wieder ausgespuckt. Pechschwarz und fast so dickflüssig wie Teer war es ein widerliches Gebräu. Doch seltsamerweise beruhigte es sie und ließ sie wieder klar denken. »Juárez ist irgendwann unserem Täter über den Weg gelaufen, ja. Aber wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass Callie ihm ebenfalls begegnet ist, also greift das mit der Überschneidung nicht.«
»Zumindest könnte sie uns bei einigen der Typen auf den Bildern helfen, die wir noch nicht identifiziert haben.«
Plötzlich müde geworden, stellte sie den Becher auf dem Tisch zwischen ihnen ab. »Vielleicht. Wenn sie Lust dazu hat. Aber wahrscheinlich ist es genau so, wie sie dir gesagt hat. Sie fragt sie nicht einmal nach ihren Namen. Meine Schwester ist vieles, Ryne, und das meiste davon ist traurig. Aber sie hat nichts mit diesem Fall zu tun … Mir ist klar, warum du mit ihr sprechen wolltest«, fuhr sie in steifem Tonfall fort, als er beharrlich schwieg. »Aber trotzdem hättest du mir vorher Bescheid sagen sollen. Wenn du mich bei der Vernehmung nicht dabeihaben wolltest, hätte ich dir zumindest ein paar Tipps dafür geben können, wie man Callie am besten anfasst.«
»Ich wollte ja«, erwiderte er leise und sah ihr dabei fest in die Augen. »Glaub mir, Abbie. Aber du stehst ihr zu nahe. Das weißt du, selbst wenn du es nicht zugeben kannst. Du hast von Anfang an gesagt, dass wir jede Option in Betracht ziehen müssen.«
Sie umklammerte die Tischkante, während sie darum rang, ebenso gefasst zu erscheinen wie er. »Und welche Option habe ich nicht in Betracht gezogen?«
»Die Klinik in Connecticut, in der Callie war. Durfte sie nach Belieben kommen und gehen, oder war sie auf einer geschlossenen Abteilung?«
Der scheinbare Gedankensprung verblüffte sie. »Was hat das …« Dann begriff sie allmählich, und ihr Zorn loderte wieder auf, als hätte er ein Streichholz an eine benzingetränkte Lunte gehalten. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sie etwas mit diesen
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