Seelenmoerder
ineinander verschränkten Hände starrte. Ryne hatte sie seit Hornbys Vergewaltigung nicht mehr gesprochen, doch er erinnerte sich an ihre Aussage im Protokoll. Sie war am Abend des Überfalls nicht zu Hause gewesen, da sie sich bei ihrer Tochter in Biloxi aufgehalten hatte. »Sie sagt, das Opfer hätte ihr vor einem Monat einen Schlüssel gegeben, und seitdem schaut sie alle paar Tage rein. Als ich den Notruf aufgenommen habe, habe ich Hornbys Namen erkannt, und weil es Ihr Fall ist, habe ich Sie gleich verständigt.«
Ryne nickte dankend, ehe der Mann fortfuhr. »Von der Spurensicherung und den Sanitätern abgesehen, ist niemand hier gewesen. Sie haben sie für tot erklärt und warten jetzt, bis die Spurensicherung fertig ist. Der Rechtsmediziner ist schon unterwegs.«
Zwei Sanitäter lehnten an einer Wand im Wohnzimmer und unterhielten sich leise. Ryne erkannte den Mann von der Spurensicherung, der sich gerade mit einer Kamera über die Tote beugte, und ging zu ihm. »Hi, Pat. Irgendwelche Erkenntnisse?«
»Jede Menge, Robel.« Der Mann mit dem schütteren Haar richtete sich auf und legte das letzte Instantfoto auf die Arbeitsfläche. »Zum Beispiel, dass ich zu viel Steuern zahle und dass Scheidung eine Femi-Nazi-Verschwörung ist, die die Weltherrschaft an sich reißen will, indem sie alle Männer ins Armenhaus bringt. Aber mich fragt ja sowieso niemand.« Er schüttelte traurig den Kopf, nahm einen Filzstift und beschriftete das Bild, ehe er es in eine Beweismitteltüte steckte und diese ebenfalls beschriftete. Sechs weitere Fotos waren bereits genauso behandelt worden, und jedes davon zeigte die unzweifelhaft tote Frau am Küchentisch aus einem anderen Winkel.
»Faszinierend. Aber ich interessiere mich eher für die Todesursache.«
Der Mann zeigte auf die Beutel mit gesicherten Beweismitteln, die neben den Fotos lagen. Fünf enthielten leere Pillenfläschchen und einer ein leeres Glas. »Anscheinend hat sie den gesamten Inhalt ihres Medizinschranks geschluckt, aber dazu hat der Rechtsmediziner das letzte Wort. Wenn Sie mich fragen, ist sie schon ein paar Tage tot.«
Ashley Hornbys Tod war nicht leichter gewesen als ihre letzten Lebensmonate. Ein Anflug von Mitleid durchzuckte ihn. Ihre Hände umklammerten nach wie vor die Armlehnen
des Rollstuhls, und ihr Kopf war auf die Brust gesunken. Getrocknetes Erbrochenes klebte vorn an ihrem Bademantel, hatte sich in ihrem Schoß gesammelt sowie Tisch und Fußboden befleckt. Eine Überdosis Medikamente hatte vermutlich zuerst Übelkeit und dann eventuell Krämpfe ausgelöst, ehe Ashley ins Koma gefallen war. Es sah alles sehr eindeutig aus, doch erst eine Obduktion würde wirklich Klarheit schaffen.
Abbie trat vor die Pillenfläschchen und las durch die Klarsichttüten die aufgeklebten Verordnungen ab. »Darvocet gegen Schmerzen, Prozac gegen Depressionen, Naramig gegen Migräne – das wurde allerdings bereits vor fast einem Jahr verschrieben – sowie normales Aspirin und Tylenol. Auf sämtlichen rezeptpflichtigen Medikamenten ist Ashleys Name vermerkt.« Sie musterte den Kriminaltechniker. »Haben Sie einen Abschiedsbrief gefunden?«
»Nein. Aber Patterson und Fowler durchsuchen gerade die anderen Zimmer.«
Abbie zog ein Paar Handschuhe heraus und streifte sie über. Ryne tat es ihr nach. Ashleys Selbstmord würde als möglicher Mord behandelt werden, bis das Gegenteil bewiesen war. Und die Tatsache, dass sie eines der Opfer des Serienvergewaltigers gewesen war, weckte einige Zweifel hinsichtlich ihres Todes.
»Hat irgendjemand ihren Anrufbeantworter abgehört? Oder ihr Telefon überprüft?«
Pat Rogowski schüttelte auf Rynes Frage hin den Kopf und schob seine Nickelbrille weiter nach unten. »Noch nicht.«
Abbie ging hinüber, drückte den Knopf und ließ die aufgezeichneten Nachrichten ablaufen.
»Okay«, sagte Ryne, während er ein Notizbuch zückte und zu schreiben begann. »Ich besorge mir eine richterliche
Anordnung, damit wir ihre Festnetzgespräche nachvollziehen können. Und ihre Verbindungen auf dem Mobiltelefon, falls wir eines finden.«
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück. Gómez sprach gerade mit der älteren Frau auf dem Sofa. Sie hatte sich nicht geregt, seit Ryne gekommen war. Mit einer kaum merklichen Kopfbewegung bedeutete er dem Mann, ihm zur Haustür zu folgen. Er senkte die Stimme und fragte: »Was hat sie zu sagen?«
Der Officer zog sein Notizbuch zurate. »Sie sagt, das letzte Mal habe sie vor drei Tagen nach der Hornby geschaut,
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