Seelenmoerder
so um die Mittagszeit. Die Hornby hat nicht aufgemacht, aber die Clemons meint, das war nichts Außergewöhnliches. Sie hat nur gefragt, ob sie etwas braucht, und das Opfer hat nein gesagt.«
»Ich hätte öfter nach ihr sehen müssen«, erklärte Iris Clemons mit zitternder Stimme.
Ryne wandte sich der Frau auf der anderen Seite des Zimmers zu. Offenbar hörte sie trotz ihres Alters erstaunlich gut. Er ging zu ihr hinüber und fragte: »Wie oft haben Sie Ashley Hornby gesehen oder mit ihr gesprochen, Ma’am?«
»Etwa zweimal die Woche seit der … seit dem Vorfall.« Sie brachte das Wort »Vergewaltigung« nicht über die Zunge. Ryne schätzte sie auf Anfang, Mitte siebzig. Dick aufgetragenes Make-up hatte sich in den winzigen Fältchen gesammelt, die die lebenslange Raucherin kennzeichneten. »Ashley ist noch nie besonders kontaktfreudig gewesen. Aber sie war ganz nett«, fügte sie hastig hinzu, als wollte sie nicht schlecht von einer Toten reden. »Allerdings hatte sie mit ihren Nachbarn nicht viel zu tun. Und als sie aus dem Krankenhaus kam, wollte sie überhaupt niemanden mehr sehen. Nur mich hat sie ab und zu reingelassen, damit ich etwas für sie erledige. Ich habe aufgeräumt, abgestaubt oder eingekauft.«
»Wie oft ist sie ausgegangen?«
»Oh, sie war schon seit …« Die Frau schürzte die Lippen. »Sie war seit mindestens drei Wochen nicht mehr draußen. Sie meinte, sie wolle nicht mehr zur Physiotherapie gehen, weil es Zeitverschwendung sei. Das weiß ich, weil eine Frau vom Krankenhaus gekommen ist und mit ihr darüber reden wollte, aber Ashley hat sie auch nicht reingelassen. Nicht dass ich gelauscht hätte, verstehen Sie mich nicht falsch. Aber ich habe gerade meine Tomaten gegossen und es zufällig mitbekommen.«
Ryne hätte darauf gewettet, dass sie ziemlich viel davon »mitbekam«, was sich bei ihren Nachbarn abspielte.
»Sie war einfach zu viel allein.« Beim letzten Wort brach ihr die Stimme, und sie tupfte sich die Augen mit einem zerknüllten Kleenex, worauf sich ein dunkler Mascarastreifen unter dem einen Auge ausbreitete. »Sie ist erst dieses Jahr nach einer hässlichen Scheidung hierhergezogen. Ich weiß nicht einmal, ob sie hier Freunde hatte.«
»Bestimmt war sie dankbar für alles, was Sie für sie getan haben, Ma’am.«
Iris Clemons nickte unglücklich. Ryne sah aus dem Augenwinkel, wie Abbie mit einem anderen Kriminaltechniker sprach, daher überließ er die Frau Gómez und ging zu Abbie hinüber.
»Wir müssen nach Briefen suchen, die sie bekommen hat«, drängte Abbie. »Am besten durchsuchen wir gleich ihre Mülltonnen. Und bringen in Erfahrung, wann sie zuletzt geleert worden sind.«
»Glaubst du, unser Täter hat noch mal zugeschlagen?«, fragte Ryne leise, während sich der andere Mann entfernte. »Passt das zu ihm?«
»Er hat keines der anderen Opfer ein zweites Mal kontaktiert.« Als er sie vor kaum einer Stunde zuletzt gesehen
hatte, hatte sie vor Wut gekocht, doch jetzt wies weder ihr Tonfall noch ihr Gesichtsausdruck die geringste Spur davon auf. Sie war völlig ruhig, und er musste plötzlich feststellen, dass ihm ihre Wut weit besser gefallen hatte als die distanzierte Gelassenheit, die sie jetzt zur Schau trug. »Möglich ist es schon, aber es würde mich wundern, wenn er Ashley kontaktiert hätte.«
»Nicht einmal, um sich zu vergewissern, dass sie leidet?« Das war ein Schlag unter die Gürtellinie. Doch selbst das Wissen darum konnte ihn nicht an dem Versuch hindern, sie zu irgendeiner Reaktion zu provozieren. Er wollte ihre grauen Augen lieber auflodern sehen, statt sich von ihnen mit diesem steinernen Blick betrachten zu lassen.
»Ich schätze, dafür hat er schon mit großer Gewissheit gesorgt, oder?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr sie fort. »Sie hat keine Anruferkennung, aber die Wahlwiederholung zeigt an, dass der letzte Anruf, der von ihrem Telefon getätigt wurde, letzte Woche an einen Lebensmittelladen ging. Ich habe dort angerufen, und man hat mir bestätigt, dass sie am Donnerstag etwas bestellt hat, was noch am selben Nachmittag um drei Uhr geliefert wurde.«
»Und die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter?«
Sie konsultierte ihr Notizbuch. »Abgesehen von meinen waren noch sechs weitere darauf. Eine war von einem Vertreter. Vier kamen von verschiedenen Krankenhausmitarbeitern – ihrer Physiotherapeutin, ihrem Arzt und einer Krankenschwester -, die ihr alle rieten, die Behandlung fortzusetzen. Der jüngste Anruf stammt von gestern
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