Seelenmoerder
Kerl, statt mich alles x-mal wiederkäuen zu lassen.«
Der weinerliche Tonfall ihres letzten Satzes lenkte von ihrem Vorwurf ab. Ryne nahm ihr ihre Reaktion nicht übel. Die meisten Opfer erlebten die ganze Vergewaltigung noch einmal, wenn sie den Ablauf schildern mussten, und er brachte Barbara Billings nicht gern in diese Lage. Doch weder die Beamten der Wasserpolizei noch die Ermittler, die im Krankenhaus als Erste mit ihr gesprochen hatten, hatten die für diesen Fall relevanten Fragen stellen können.
»Es tut mir leid, dass wir Sie noch einmal belästigen müssen. Natürlich haben wir die anderen Berichte gelesen, aber wir haben trotzdem noch ein paar Fragen.« Absichtlich ließ er den Stuhl, der am nächsten bei Barbara Billings stand, für Abbie frei, da die Frau vermutlich momentan keinen Mann in ihrer Nähe haben wollte. Als sie sich vorgestellt hatten, hatte sie allerdings Abbie nicht mehr beachtet als ihn.
»Hi. Ich bin Abbie Phillips.«
Ryne sah auf, während er gleichzeitig den Opferfragebogen herausholte, den sie für diesen Fall vorbereitet hatten. Abbie hatte sich auf ihrem Stuhl vorgebeugt und sprach Barbara Billings direkt an. »Wenn Ihnen momentan nicht danach ist, Barbara, können wir auch später wiederkommen. Oder falls Sie irgendwann unterbrechen möchten, hören wir auf und machen ein andermal weiter.«
Barbara Billings sah Abbie zum ersten Mal richtig an, und schlagartig wurde Ryne klar, was seine neue Kollegin tat. Sie stellte eine Beziehung her, indem sie vor ihrem aktuellen Anliegen der Empathie oberste Priorität einräumte. Widerwillig gestand er sich ein, dass es funktionierte. Zum ersten Mal, seit sie den Raum betreten hatten, nahm die Frau Blickkontakt zu einem von ihnen auf.
»Ich würde es gern hinter mich bringen.«
Abbie nickte. »Okay. Wahrscheinlich sind Sie noch nicht dazu gekommen, bei der Hotline für Vergewaltigungsopfer anzurufen, aber man hat Ihnen eine Karte gegeben, oder?«
Die Frau wandte mit einer ruckartigen Kopfbewegung den Blick ab.
»Therapeutische Gespräche helfen. Es ist schwer, den ersten Schritt zu tun, aber dann merkt man, dass es einem guttut.«
»Das habe ich ihr auch schon gesagt.« Nancy Billings schwirrte hinter der Couch herum, als wollte sie ihre Tochter vor dem Kommenden bewahren. Doch niemand konnte Barbara vor dem beschützen, was vor ihr lag. Und obwohl Ryne kein Fan von Psychotherapeuten war, schloss er aus dem Bericht, dass die Frau gut daran täte, Phillips’ Rat zu folgen.
»Dummerweise müssten Sie dann aber zugeben, dass Ihre Mutter recht hatte.«
Abbies Worte zauberten zwar kein Lächeln auf Barbara Billings’ Gesicht, doch ihre Miene hellte sich ein wenig auf. »Das hört sie gern. Vielleicht mache ich ihr morgen die Freude.«
»Na, dann haben doch alle etwas davon.«
Ryne nutzte die entstandene Gesprächspause. »Ms Billings, in Ihrer Aussage heißt es, Sie seien zu Hause überfallen worden. Wann haben Sie bemerkt, dass Sie nicht allein waren?«
Sie wurde blass. »Ich bin durch die Garage ins Haus gegangen und habe Handtasche und Schlüssel auf ein Tischchen im Flur gelegt. Dann habe ich die Haustür aufgemacht, um die Post reinzuholen. Die Tür zur Garage schließe ich nicht immer ab. Also, ich habe einen elektrischen Türöffner für den einzigen Zugang zur Garage, und damit habe ich hinter mir das Tor zugemacht. Aber ich weiß, dass ich die Vordertür abgesperrt habe, als ich mit der Post zurückkam.«
»Ihr Briefkasten steht vor dem Haus, vorne am Gehweg?«
»Gleich neben der Haustür. Dafür muss ich das Haus nicht einmal verlassen. Ich habe nur den Arm ausgestreckt, den Briefkasten geleert und die Tür wieder zugemacht. Und ich bin mir sicher, dass ich abgeschlossen habe.« Sie zupfte am Saum der Steppdecke und sah zu ihrer Mutter auf, als wollte sie sich absichern. »Ich schließe immer ab.«
Sie driftete weg. Ryne registrierte den panischen Unterton in ihrer Stimme, während ihre Mutter ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter legte und Ryne einen finsteren Blick zuwarf. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, knüpfte Abbie geschickt den Gesprächsfaden weiter. »Wenn Ihre Post so ähnlich aussieht wie meine, dann besteht sie zum größten Teil aus Werbung. Haben Sie alles gleich durchgeschaut, nachdem Sie die Tür abgeschlossen hatten?«
Damit holte sie Barbara Billings im Handumdrehen aus den Selbstzweifeln heraus, die an ihr zu nagen begonnen hatten. »Ich bekomme eigentlich in erster Linie Rechnungen. Da
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