Seelenmoerder
Weg gehen.
Als sie auf ihn zukam, trat er beiseite, damit sie durch die Tür gehen konnte. »Lass mir eine Stunde Zeit, dann treffen wir uns im Büro, okay?« Falls er etwas erwidert hatte, so
hatte sie es nicht gehört. Sie schloss die Badezimmertür hinter sich und lehnte sich dagegen, während ihr das Blut in den Ohren rauschte. Diese Szene hatte sie bereits in mehreren Variationen erlebt, also gab es eigentlich keinen Grund, sich davon jetzt so nervös machen zu lassen.
Doch es machte sie nervös, das ließ sich nicht leugnen. Mit steifen Gliedern ließ sie das Laken fallen, ging zur Wanne hinüber und stellte die Dusche an. Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, »normal« zu sein. Wenn sie doch nur lernen könnte, einem Mann genügend zu vertrauen, um ihn an sich heranzulassen.
Und völlig vergebens wünschte sie außerdem, dass es nicht ausgerechnet dieser Mann wäre, der ein derart heftiges Verlangen in ihr auslöste.
Keine noch so große Menge heißen Wassers konnte Abbies finstere Gedanken wegschwemmen, doch wie immer half es ihr, wenn sie sich auf die Ermittlungen konzentrierte. Sie brannte darauf, möglichst viel über Karen Larsen zu erfahren, und auch wenn sie den Tag nicht unbedingt mit Ryne verbringen wollte, war ihr doch daran gelegen, ihre Beziehung wieder in professionelle Bahnen zu lenken.
Sie stellte das Wasser ab, schnappte sich ein Handtuch und frottierte sich rasch die Haare, ehe sie es sich um den Körper wickelte. Sich in einen neuen Aspekt der Ermittlungen zu vertiefen würde die Beklommenheit zwischen ihnen dämpfen. Das sagte ihr die Logik. Wenn sie jetzt nur noch die Logik über die Gefühle stellen könnte, könnte sie ihm sogar erneut gegenübertreten.
Blitzschnell beendete sie ihre Morgentoilette, ehe sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, in Gedanken ganz bei den bevorstehenden Aufgaben. Sie tastete nach dem Schalter, machte Licht und erstarrte.
Ryne hätte längst weg sein sollen. Sie hatte ihm doch jede
Gelegenheit gegeben, ohne irgendwelche Komplikationen das Feld zu räumen. Jeder andere Mann hätte die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, sich aus dem Staub zu machen.
Allerdings hatte sie auch noch nie einen Mann wie Ryne Robel kennengelernt.
Vollständig angezogen saß er auf einer Ecke des Betts, die Hände zwischen den gespreizten Beinen gefaltet, und sah sie an, ehe er mit heiserer, aber entschlossener Stimme zu sprechen begann. »Wir müssen ein paar Dinge klären, ehe wir …«
Er hielt inne, und sie begriff sofort, was ihn abgelenkt hatte. Ruckartig nahm sie die Hand vom Lichtschalter, doch er war bereits aufgestanden und ging auf sie zu. Ehe sie sich abwenden konnte, hatte er sie an den Schultern gefasst, einen ihrer Arme ergriffen und angehoben. Ihr Blick folgte seinem, hin zu dem Muster aus kreuz und quer verlaufenden alten Narben, die die Innenseite ihres Arms von oberhalb des Ellbogens bis zum Handgelenk bedeckten. Narben, die letzte Nacht von ihrem Hemd verdeckt worden waren. Und von der Dunkelheit.
Die meisten waren jetzt weiß. Diejenigen, die immer noch rosa und wulstig waren, waren tiefer gewesen als die anderen und würden nie ganz verheilen. Sie traf diese nüchterne Feststellung, als betrachtete sie die Narben einer anderen.
Ryne ließ ihren einen Arm fallen und musterte den anderen. Als er ihr erneut ins Gesicht sah, tat er dies mit der gleichen undurchdringlichen Maske, die sie bereits von ihrer ersten Begegnung kannte. Mit dem gleichen angedeuteten Lächeln, das absolut nichts mit Humor zu tun hatte. »Bist du eine Ritzerin, Abbie?«
Sie zuckte zusammen und riss sich los, und diesmal ließ er es zu. Mit dem merkwürdigen Gefühl, plötzlich gealtert zu sein, ging sie auf ihren Kleiderschrank zu, hatte allerdings
nicht vor, sich vor ihm anzuziehen. Auf jeden Fall musste sie unbedingt Distanz schaffen, wenigstens körperlich. »Was machst du eigentlich noch hier?«
»Du wechselst das Thema.«
»Das ist das einzige Thema, das mich interessiert.«
»Diese Narben sind so gerade und so gleichmäßig, dass sie nur von Rasierklingen stammen können. Entweder hast du es selbst gemacht, oder…« Er verstummte und eilte mit zwei großen Schritten auf sie zu. »Hat dich jemand misshandelt? War es deine Schwester?«
Callie. Abbies Magen machte einen Satz. Oh Gott, darüber wollte sie nicht sprechen. Nicht jetzt. Nicht mit ihm. »Callie hat mir nie etwas zuleide getan.« Nicht im eigentlichen Sinne. Vielmehr ganz im Gegenteil. Das war doch
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