Seelenmoerder
und war froh, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Es war leichter, viel, viel leichter, so zu tun, als würde sie Selbstgespräche führen.
»Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich war, als ich begriff, was sich abspielte. Nicht in seiner gesamten Tragweite
natürlich.« Kinder konnten das ganze Grauen solcher Vorgänge nicht ermessen, bis sie selbst hineingezogen wurden. »Aber ich habe gewusst, dass er ihr wehgetan hat. Dass er mitten in der Nacht in ihr Zimmer gegangen ist und ›schlimme Sachen‹ mit ihr gemacht hat. Sachen, wegen denen sie weinen und bluten musste. Sachen, die kleine Mädchen niemandem schildern können.«
»Und eure Mutter?«, klang es leise in ihr Ohr.
»Ist an einer Lungenentzündung gestorben, als ich zwei war. Wir sind oft umgezogen. Er hat bei einer großen Baufirma gearbeitet. Wir sind dorthin gezogen, wo ihre Projekte waren.« Die Jahre zogen wie ein unscharfer Film aus neuen Wohnvierteln und neuen Schulen an ihr vorüber. Mittlerweile begriff sie, dass ihr Lebensstil zu ihrer Isolation beigetragen hatte. Sie daran hinderte, Beziehungen zu Menschen zu knüpfen, denen sie ihr Geheimnis hätten anvertrauen können. Sie würde sich zeit ihres Lebens fragen, ob das zum Plan ihres Vaters gehört hatte.
»Ich war acht, als er das erste Mal vor meinem Zimmer stand.« Sie nahm Ryne hinter sich kaum mehr wahr. Spürte nicht, wie er regungslos und mit angehaltenem Atem lauschte. Die Vergangenheit hatte sie aufgesogen und mit Haut und Haar verschluckt. Die Erinnerungen schmerzten nach wie vor. »Er ist nicht hineingekommen. Sowie wir in das Haus gezogen waren, hat Callie innen an meiner Zimmertür ein Schloss angebracht. Ich habe keine Ahnung, wo sie es herhatte und woher sie wusste, wie man es montiert. Doch sie hat es getan und sich von mir schwören lassen, dass ich jede Nacht abschließe.« Also blieb er draußen und flüsterte durchs Schlüsselloch, mal schmeichelnd, mal drohend. Während sie zitterte und in der Finsternis darum betete, von etwas erlöst zu werden, das sie gar nicht richtig begriff.
»Und wie lange hat ihn das Schloss ferngehalten?«
Sie wusste, worauf er hinauswollte, doch sie schüttelte den Kopf. »Callie hat dafür gesorgt, dass er nicht hereinkam. Sie hat ihn immer … abgelenkt.« Sich selbst als Opfer angeboten, damit er Abbie nicht missbrauchte. Wie zahlte man eine so große Schuld zurück? Erst recht in dem Wissen, dass dies Callie ihre seelische Gesundheit gekostet hatte?
Ryne stand stark und sicher hinter ihr. Es war so unendlich verführerisch, sich nur für einen Augenblick bei ihm anzulehnen, doch sie versagte sich selbst diese kleine Schwäche. Wenn ihre Vergangenheit sie eines gelehrt hatte, dann wie gefährlich es war, sich auf jemand anderen als sich selbst zu verlassen.
»Eines Nachts hatte ich solche Angst, er könnte hereinkommen, dass ich versucht habe, durchs Fenster zu fliehen. Dabei habe ich die Scheibe zerbrochen und mich in den Arm geschnitten.« Sie hielt inne, da es ihr angesichts der Erinnerung die Kehle zuschnürte. Es war unmöglich, diesen schnellen, schneidenden Schmerz zu beschreiben, der so völlig rein war und irgendwie schön. Unmöglich zu beschreiben, was sie erneut nach einer Scherbe hatte greifen lassen, sobald sie die Schritte vernahm, die in schweren Arbeitsstiefeln nahten und den Flur entlang an ihrem Zimmer vorbeigingen, von wo ihre Schwester gerufen hatte. Jedes Mal, wenn sie Callie aufschreien hörte, zog sie sich die Glasscherbe erneut über den Arm. Als könnte das Zufügen von Schmerz sie von der Verantwortung für das entsetzliche Leid ihrer Schwester freisprechen, das diese ihr zuliebe auf sich nahm.
»Später bin ich dann zu Rasierklingen übergegangen«, sagte sie tonlos. Aus gutem Grund verschwieg sie ihm, dass Callie ihr die Klingen besorgt hatte. Er würde nie verstehen, wie das gemeinsame Leid die Schwestern zusammengeschweißt hatte. Nur durch ihre Ausbildung und die Distanz des Erwachsenseins begriff sie, wie trostlos und abseitig
diese Reaktion gewesen war, doch damals war sie ihnen beiden völlig folgerichtig erschienen.
»Lebt er noch?«, fragte er mit belegter Stimme.
Die zornige Zielgerichtetheit in seinem Tonfall nahm sie erneut für ihn ein. Sie hätte ihm erklären können, dass niemand altes Unrecht wiedergutmachen konnte. Man musste eben einen Weg finden, um damit zu leben. Doch es rührte sie, dass er sich für sie einsetzen wollte.
»Er ist gestorben, als ich zehn war. Danach sind wir
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