Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelennacht

Seelennacht

Titel: Seelennacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
Vom Netzwerk:
folgte mir ohne ein Wort. Ich zeigte ihr das Versteck, das ich gebaut hatte, und sie setzte sich, immer noch auf diese seltsame zusammengekauerte Art.
    »Was ist passiert?«, fragte ich.
    Es dauerte einen Moment, bis sie antwortete. »Ich hab meinen Dad angerufen. Ich hab ihm alles erzählt. Er hat gesagt, ich sollte bleiben, wo ich bin, und er würde kommen und mich abholen.«
    »Und dann hast du’s dir anders überlegt. Schon okay, wir werden …«
    »Ich bin zum Warten auf die andere Straßenseite gegangen«, fuhr sie fort, als hätte ich nichts gesagt. »Da war ein Gang, ich wollte nicht, dass mich jemand sieht, während ich warte. Das Auto hat gehalten, und ich wollte grade ins Freie gehen, aber ich – ich hab’s nicht gemacht. Ich kam mir so doof vor, hab mir immer wieder gesagt, dass ich einfach zu lang in deiner Nähe war und jetzt auch schon total paranoid bin, aber ich hab ihn einfach erst sehen müssen, damit ich mir sicher sein konnte. Es war sein Auto, das von meinem Dad. Es hat genau da gehalten, wo ich gesagt hatte, dass ich warten würde. Hat da gestanden mit laufendem Motor, alle Fenster oben, gesehen hat man gar nichts, es war zu dunkel. Dann ist eine Tür aufgegangen, und …« Ihre Stimme sank ab. »Es war meine Mom.«
    »Sie muss den Anruf mitgehört haben«, sagte ich. »Vielleicht haben sie die Autos getauscht. Oder sie hat einfach seins genommen, weil sie gewusst hat, dass du auf sein Auto wartest. Wahrscheinlich war er unterwegs zu dir, vielleicht in
ihrem
Auto, und …«
    »Ich hab mich verdrückt und noch mal bei uns zu Hause angerufen, ein R-Gespräch. Mein Dad ist drangegangen, und ich hab aufgelegt.«
    »Es tut mir leid.«
    Schweigen. Dann fragte sie: »Hast du nicht vor, wenigstens ›Hab’s dir doch gleich gesagt‹ zu sagen?«
    »Natürlich nicht.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Du bist zu nett, Chloe. Und ich meine das nicht als Kompliment. Es gibt nett, und es gibt
zu
nett. Jedenfalls, ich bin wieder da.« Sie griff in die Tasche und zog etwas heraus. »Mit Essbarem.«
    Sie gab mir ein Snickers.
    »Danke. Ich hab gedacht, du hast kein Geld?«
    »Hab ich auch nicht. Fünf-Finger-Rabatt.« Ihre Sneakers quietschten auf dem Zementboden, als sie sich weiter auf die Pappmatratze schob. »Ich hab oft genug gesehen, wie meine Freunde das machen, aber ich hab’s nie selbst getan. Und weißt du auch warum?« Sie wartete nicht auf eine Antwort. »Weil ich Angst gehabt hab, erwischt zu werden. Nicht von den Angestellten oder der Polizei. Das hätte mir nichts ausgemacht, die halten dir einfach eine Predigt und lassen es dich bezahlen. Ich hab Angst gehabt, meine Mom kriegt es raus. Angst davor, sie würde enttäuscht sein.« Ein Rascheln, als sie ihren eigenen Riegel auswickelte und ein Stück abbrach. »Dieses Problem hab ich jetzt weniger, was?« Sie schob sich das Stück in den Mund.

[home]
15
    K aum dass ich etwas im Magen hatte – und obwohl es nur ein Schokoriegel war –, übermannte mich die Erschöpfung. Ich war noch nicht lang eingeschlafen, als die Träume kamen, Alpträume, dass wir die Jungs niemals finden würden, dass Mrs. Enright Tante Lauren umbrachte, dass Tori mich verschnürte wie ein Paket und mich hier zurückließ, damit die Edison Group mich fand …
    Der Klang von Stimmen weckte mich. Ich sprang auf, der Atem stockte mir in der Kehle, und ich hielt in der Dunkelheit nach Männern mit Schusswaffen Ausschau.
    Neben mir lag Tori und schnarchte.
    »Liz?«, flüsterte ich.
    Keine Antwort. Sie musste auf einem ihrer Rundgänge sein.
    Ich hatte die Stimmen bestimmt nur geträumt. Doch da hörte ich es wieder, eine Art
psst-psst-psst,
zu schwach, als dass ich Worte hätte verstehen können. Ich lauschte, hörte aber nichts als dieses papierne Flüstern. Ich blinzelte, bis die Dunkelheit ringsum zu einer Landschaft aus scharfkantigen schwarzen Felsen wurde – Kisten und Kartons. Nur ein matter Schein von Mondlicht schaffte es durch die verdreckten Fenster ins Innere. Dann fing ich einen schwachen Geruch auf, etwas Moschusartiges, Tierisches. Ratten? Ich schauderte.
    Das Geräusch wiederholte sich. Ein papiernes Geraschel. Wie Wind in totem Laub. Vielleicht war es ja genau das?
    Totes Laub im April? Wenn der nächste Baum mindestens hundert Meter weit entfernt steht?
    Nein, es hörte sich an wie ein Geist. Wie die Horrorfilm-Version, wenn man nichts als ein wortloses Flüstern hört, das einem die Wirbelsäule hochkriecht und mitteilt, dass etwas auf der Lauer

Weitere Kostenlose Bücher