Seelennacht
nicht einmal, dass ich eine Nekromantin war. Sollte ich also entkommen und sie nicht, würde ich mich von ihm fernhalten müssen.
Dann kam der letzte Abschnitt. Drei Sätze.
Sie hat sich so sehr ein Kind gewünscht, Chloe. Und Du bist so wunderbar, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Du warst der Mittelpunkt ihres Lebens.
Tränen brannten mir in den Augen, als der alte, nie ganz verheilte Schmerz wiederaufflammte. Ich holte tief und zitternd Luft, faltete den Brief zusammen und schob ihn wieder in die Tasche.
Wir hatten über eine Stunde in unserem Versteck verbracht, als Liz mit den Neuigkeiten hereingestürzt kam. »Sie ist nicht tot. Deine Tante. Alles in Ordnung mit ihr.«
Nach der Begeisterung auf ihrem Gesicht hätte man meinen können, sie hätte gerade erfahren, dass ihre eigene Tante überlebt hatte. Es war ihr nicht wichtig, dass Tante Lauren zu der Gruppe gehört hatte, die sie ermordet hatte. Das Einzige, was sie interessierte, war, dass die Neuigkeit mir Freude machen würde. Ich sah ihr strahlendes Gesicht, und mir wurde klar, dass ich mir so viel Mühe geben konnte, ein guter Mensch zu sein, wie ich wollte – ich würde niemals so selbstlos sein können wie Liz.
Die Erleichterung machte einer neuen Sorge Platz. Was würden sie Tante Lauren antun, nachdem sie mir zur Flucht verholfen hatte? Jetzt, nachdem sie sie verraten hatte? Dieser Gedanke wiederum erinnerte mich an einen weiteren Verrat. Rae.
Ich hatte ihr vertraut. Ich hatte mich Simon und Derek gegenüber für sie verbürgt, sie überredet, Rae zu erlauben, sich uns anzuschließen. Und sie hatte uns ans Messer geliefert.
Rae war es gewesen, die darauf beharrt hatte, dass die Jungs nicht zurückkommen würden. Sie war es gewesen, die vorgeschlagen hatte, dass ich zu Tante Lauren gehen sollte, die mich überredet hatte, als ich gezögert hatte.
Ich erinnerte mich an die Nacht, in der wir geflohen waren, wie wir zuvor im Bett gelegen und zu schlafen versucht hatten. Sie war wegen ihrer Kräfte so aufgeregt gewesen und nicht im Geringsten besorgt wegen dem, was vor uns lag. Gut, und jetzt wusste ich auch, warum sie nicht nervöser gewesen war.
Tante Lauren hatte gesagt, Rae habe ehrlich geglaubt, mir zu helfen. Ein Verrat mit dem Ziel, mich zu meinem Glück zu zwingen – sie hatte in der Gewissheit, dass sie recht hatte und ich einfach zu stur war, um es einzusehen, dafür sorgen wollen, dass ich auf dem für mich gewählten Pfad blieb.
Jetzt saßen sowohl sie als auch meine Tante in der Falle der Edison Group. Wenn die erste Begeisterung über ihr neues Leben einmal abgeflaut war, würde Rae die Unstimmigkeiten sehen und so lange an ihnen herumpicken, bis sie die Wahrheit entdeckte. Ich hoffte, sie würde es nicht tun. Ich betete darum, sie würden beide ganz einfach den Mund halten und alles tun, was die Edison Group von ihnen verlangte, bis ich zurückkommen konnte. Und ich würde zurückkommen.
Schließlich tauchte Liz wieder auf und erzählte, dass Dr. Davidoff und seine Gefolgschaft in der Annahme, Tori und ich müssten uns irgendwie durchs Haupttor geschlichen haben und längst fort sein, aufgegeben hatten. Sie hatten jemanden zurückgelassen, der für den Fall, dass Derek auftauchen und meine Fährte verfolgen würde, aus irgendeinem Versteck heraus Wache schob.
Um fünf Uhr ertönte der Gong, der das Ende des Arbeitstages ankündigte. Gegen halb sechs war das Gebäude leer. Wir warteten trotzdem. Bis nach sechs, bis nach sieben …
»Es muss draußen schon dunkel sein«, flüsterte Tori, als sie zu mir herübergekrochen kam.
»Dämmerung. Noch nicht dunkel. Wir warten besser noch eine Stunde.«
Um acht gingen wir.
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14
W ir drückten uns an dem Nachtwächter vorbei, der im Pausenraum saß und den
Playboy
las. Liz blieb in seiner Nähe, um reagieren zu können, wenn er uns bemerkte, aber er tat es nicht.
Glücklicherweise hatten Tori und ich an diesem Morgen beide dunkle Klamotten angezogen – Tori steckte in einem dunkelblauen Sweatsuit von American Eagle und einer Lederjacke, ich trug Jeans und ein grünes T-Shirt. Ich wünschte mir nur, etwas Wärmeres als diese dünne Jacke zu haben. Nach Sonnenuntergang wurde es sehr kalt, und der eisige Wind, der über den Niagara River hinweg direkt aus Kanada zu kommen schien, machte es noch schlimmer.
Wenn wir es einmal in das Lagerhaus geschafft hatten, würden wir uns immerhin um den Wind keine Gedanken mehr machen müssen. Dort hinzukommen allerdings
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