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Seelennacht

Seelennacht

Titel: Seelennacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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ich …«
    Ich schloss die Augen und versetzte ihm in Gedanken einen einzigen kräftigen Stoß. Er keuchte und segelte rückwärts durch die Wand, als hätte man ihn aus der Luftschleuse eines Raumschiffs geblasen. Ich wartete einen Moment lang ab, ob er zurückkommen würde, aber er tat es nicht. Ich musste ihn auf die andere Seite befördert haben, wo immer Geister eben leben. Gut.
    Wieder ein Schlag. Ich rappelte mich von der Kiste auf, der Geist war vergessen, schlich an dem Kartonstapel vorbei und lauschte. Schweigen.
    »Tori?«, flüsterte ich. »Liz?«
    Ähm, wenn es weder die eine noch die andere ist, ist es vielleicht auch keine so tolle Idee, sie mit Namen zu rufen?
    Ich schob mich an den Kisten entlang, bis ich eine Lücke fand. Durch sie hindurch konnte ich das hellere Rechteck eines Fensters sehen. Der Dreck war verschmiert, als hätte jemand flüchtig darübergewischt.
    Das Huschgeräusch wiederholte sich. Dann bemerkte ich den Geruch, der dem Moschusmuff im Nebenraum ähnelte, aber zehn Mal stärker war. Dann Gekratze – wie winzige Klauen auf Zementboden.
    Ratten.
    Als ich zurückwich, verdunkelte sich das Fenster. Dann
bums.
Ich blickte zu spät auf, um noch sehen zu können, was es war. Warf jemand von draußen etwas an die Scheibe? Die Jungs vielleicht, um meine Aufmerksamkeit zu erregen? Ich eilte auf das Fenster zu, hatte die Ratten vergessen, bis ich einen dunklen Fleck auf dem verschatteten Fußboden entdeckte. Er bewegte sich langsam, als zerrte er etwas mit sich. Das musste es sein, was ich roch – irgendein totes Tier, das die Ratte in ihr Versteck brachte.
    Als etwas meinen Scheitel streifte, schrie ich kurz auf und schlug mir gleich darauf die Hände vor den Mund. Ein Schatten jagte vorbei und prallte mit dem jetzt schon vertrauten dumpfen Schlag gegen das Fenster. Als er abstürzte, erkannte ich dünne ledrige Flügel. Eine Fledermaus. Die Flügel schlugen auf den Zementboden, das war das kratzende, raschelnde Geräusch. Flogen Fledermäuse nicht mit Echoortung? Sie hätte nicht gegen das Fenster prallen dürfen, wenn sie entkommen wollte.
    Außer sie hatte die Tollwut.
    Die Fledermaus erhob sich schließlich wieder in die Luft, schwankend und wankend, als wäre sie immer noch benommen. Sie flog zur Decke hinauf, wendete und kam direkt auf mich zu.
    Als ich nach hinten stolperte, rutschte ich auf irgendetwas aus und fiel mit einem markerschütternden Krach hin. Mein verletzter Arm brannte höllisch. Ich versuchte aufzuspringen, aber was auch immer es war, auf das ich getreten war, es hing jetzt an meinem Schuh und brachte mich gleich wieder zum Stolpern. Das Ding an meiner Sohle war glitschig und kalt. Ich zog es ab und hielt es ins Mondlicht. Zwischen zwei Fingern hielt ich einen verrotteten Flügel. Die Fledermaus, die ich gesehen hatte, hatte noch beide Flügel gehabt, also musste hier noch eine zweite, tote gelegen haben.
    Ich schleuderte den Flügel von mir und wischte mir hektisch die Finger an den Jeans ab. Die Fledermaus schwenkte wieder auf mich zu. Ich duckte mich, mein Fuß rutschte erneut weg, und ich fiel. Als ich auf dem Boden aufkam, war ich schlagartig von einem fürchterlichen Geruch umgeben, so stark, dass ich husten musste. Dann sah ich die Fledermaus, keinen halben Meter von mir entfernt, die Zähne gefletscht – lange Reißzähne, weiß vor der alles umgebenden Dunkelheit.
    Draußen mussten sich die Wolken verschoben haben, denn Licht strömte plötzlich ins Innere, und mir wurde klar, dass es keine Reißzähne waren, die ich sah, sondern Flecken von weißem Schädelknochen. Die Fledermaus vor mir war halb verwest – ein Auge zusammengeschrumpft, das andere eine schwarze Höhle. Das Fleisch war fast völlig verschwunden, nur ein paar herunterhängende Fetzen waren noch da. Sie hatte keine Ohren, keine Nase, nur eine knochige Schnauze. Die Schnauze öffnete sich. Reihen winziger schartiger Zähne blitzten, und sie begann zu kreischen, ein fürchterliches verzerrtes Gekreische.
    Mein eigener Schrei vermischte sich mit dem Geräusch, während ich rückwärtsstolperte. Das Ding zerrte sich auf einem zerknitterten Flügel am Boden entlang. Es war eine Fledermaus. Ganz deutlich. Und ich hatte sie in ihren Körper zurückgeholt.
    Den Blick auf die Fledermaus gerichtet, die auf mich zugekrochen kam, hatte ich die andere vergessen, bis sie mir ins Gesicht flog. Ich hatte sie zu spät kommen sehen – aber die eingesunkenen Augen, die blutigen Ohrstümpfe und den

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