Seelennacht
auf die zweite Fledermaus gewuchtet hatte, holte tief Luft und ging hin. Als ich die Hände ausstreckte, um sie wegzuschieben, sagte Liz: »Sie ist tot. Sie muss doch …« Sie brach ab und fragte dann, leise und mit zitternder Stimme: »Oder?«
»Ich muss es genau wissen.«
Ich hob die Kiste an.
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16
D ie Fledermaus war nicht tot. Sie war … ich möchte eigentlich nicht daran denken. Zu diesem Zeitpunkt war ich so verstört, dass ich mich nicht mehr konzentrieren konnte und es unglaublich lange dauerte, die Fledermaus freizugeben. Zumindest eine ganze Weile. Aber ich tat es. Und ich war froh, dass ich nachgesehen hatte. Jetzt konnte ich mich wenigstens ausruhen – das glaubte ich jedenfalls.
»Du solltest wirklich schlafen«, sagte Liz, nachdem ich fast eine Stunde lang mit offenen Augen dagelegen hatte.
Ich warf einen Blick zu Tori hinüber, die immer noch schnarchte. Seitdem ich zurückgekommen war, hatte sie sich kein einziges Mal gerührt.
»Ich bin nicht müde«, sagte ich.
»Du musst dich aber ausruhen. Ich kann helfen. Ich habe meiner Oma immer beim Einschlafen geholfen, wenn sie’s nicht konnte.«
Liz sprach nie über ihre Eltern, immer nur über ihre Großmutter, und mir wurde plötzlich klar, wie wenig ich über sie wusste.
»Hast du bei deiner Oma gelebt?«
Sie nickte. »Die Mutter von meiner Mom. Meinen Dad kenne ich nicht. Meine Oma hat gesagt, er wäre nicht geblieben.«
In Anbetracht der Tatsache, dass er ein Dämon war, nahm ich an, dass das ganz einfach die übliche Vorgehensweise war.
Liz schwieg einen Moment lang und sagte dann: »Ich glaube, sie ist vergewaltigt worden.«
»Deine Mom?«
»Ich hab da ein paar Sachen gehört. Zeug, das ich eigentlich nicht hätte hören sollen, wenn Oma mit ihren Schwestern und ihren Freundinnen geredet hat und später mit den Sozialarbeitern. Sie hat gesagt, Mom wäre ziemlich wild gewesen, als sie jung war. Nicht
richtig
wild, aber geraucht und Bier getrunken und die Schule geschwänzt. Dann ist sie schwanger geworden, und das hat sie anders werden lassen. Sie war älter. Wütend. Nach dem, was ich gehört habe … ich glaube, sie ist vergewaltigt worden.«
»Das ist schrecklich.«
Sie zog die Knie an die Brust und legte die Arme um sie. »Ich habe das nie jemandem erzählt. Es ist ja nicht gerade etwas, das man so nebenbei erzählt. Die anderen können einen dann komisch ansehen, weißt du?«
»Ich würde nie …«
»Ich weiß. Deswegen habe ich’s dir ja gesagt. Jedenfalls, ein paar Jahre lang war alles okay. Wir haben mit meiner Oma zusammengelebt, sie hat sich um mich gekümmert, und Mom hat gearbeitet. Aber dann hatte Mom diesen Unfall.«
Ein kaltes Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, als mir meine eigene Mutter einfiel – bei einem Autounfall umgekommen, der Unfallfahrer war geflüchtet. »Was für ein Unfall?«
»Die Polizei hat gesagt, sie war auf dieser Party, hat sich betrunken und ist die Treppe runtergefallen. Sie hat sich übel am Kopf verletzt, und als sie aus dem Krankenhaus gekommen ist, war es, als wäre sie eine komplett andere Person. Sie hat nicht mehr arbeiten können, also hat meine Oma gearbeitet, und Mom ist mit mir zu Hause geblieben. Aber manchmal hat sie vergessen, mir das Mittagessen zu machen, oder sie ist ausgerastet und hat mich geschlagen und gesagt, ich wäre an allem schuld. Es auf mich geschoben, weil sie nicht glücklich war, nehme ich an.«
»Ich bin mir sicher, sie hat es nicht …«
»So gemeint. Ich weiß. Hinterher hat sie dann geweint und gesagt, es täte ihr leid, und mir Schokolade gekauft. Dann ist mein kleiner Bruder gekommen, und sie hat angefangen, Drogen zu nehmen, und ist immer wieder verhaftet worden, weil sie irgendwas geklaut hatte. Aber sie ist nie ins Gefängnis gekommen, die haben sie immer in die Psychiatrie geschickt. Deswegen hatte ich in Lyle House immer solche Angst …«
»Dass sie dich auch hinschicken würden. Ich hätte helfen sollen. Ich …«
»Du hast’s probiert. Es hätte nichts gebracht. Die hatten sich längst entschieden.« Sie verstummte einen Augenblick lang. »Mom hat versucht, mich zu warnen. Manchmal ist sie bei mir in der Schule aufgetaucht, komplett zugedopt, und hat von Experimenten und magischen Kräften geredet und gesagt, ich müsste mich verstecken, damit sie mich nicht finden.« Wieder eine Pause. »So verrückt war sie da wahrscheinlich gar nicht, stimmt’s?«
»Nein, war sie nicht. Sie hat versucht, dich zu
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